deinen Freundinnen) das, was du mir sonst in Leipzig zu wenig zu haben schienest, daß du dich am Ende zu weich für einen freien Genus des Lebens machst.
Von den alten Geselschaften foderte ich blos die Nachsicht in den neuen -- weiter nichts; aber diese gaben mir die Höfer nicht immer.5
"Er glaubte weil er alles erriethe etc.!" Ich glaubte es nie, weil ich weis, daß ich wegen meiner Phantasie gar nichts anfangs richtig sehe und also das erstemal alle Dinge, Menschen, Gegenden, Bücher, Musik, etc. zu gut finde.
"Er hielt mich für eitler als ich war und ich war es am meisten10 "gegen ihn etc." Das ist sehr eitel und hart; aber ich fand diese Eitelkeit nie gegen mich bei dir und ich verstehe dich auch nicht ganz: ich war mit allem bei dir zufrieden und dachte, du seiest es auch. Ich denke bei niemand, den ich liebe, daran, noch achtzugeben im Taumel der Liebe -- ich sehe nichts -- ich scheine nichts -- und freue mich blos. Wo ich15 dich der Eitelkeit sehr schuldig fand und dir einen erkälteten Brief schrieb, war da du in Bayreuth warest.
"Ach es ist viel vergangen und es wird noch mehr vergehen." Jeder Glockenschlag ist für mich das Leichengeläute der sterbenden Emp- findungen, aber auch das Kindtaufsgeläute der neuen. Ach die20 20jährigen Freundschaftsgefühle, die 20jährigen Entzückungen der[17] Liebe sind hinunter und kommen in keinem irdischen Morgen herauf; aber wie alte Sterne untergehen, so gehen neue herauf. Keine Emp- findung bleibt dieselbe; aber was über ihr geboren wird, ist schöner und das neue Herz ist blos oft unglüklicher, aber nicht kälter als das25 alte. Darüber kan man nur ein Buch schreiben. Es ist nichts verblüht; der wachsende Sprösling wirft im Herbst seine Blätter ab, und später einmal seine jungen Blüten, aber endlich steht er doch erst in vol- endeten: der Mensch hat viele Frühlinge und keinen Winter.
Warum ich dir so wenig zulezt von meinen Fatis erzählte? -- Ach30 wie kindlich-unschuldig steh ich hier vor mir! -- weil mich die ewige Wiederkehr meines Ichs ekelte -- weil ich immer nur von meinen Briefen und von meinen Räuchermeistern zu sagen hatte -- weil ich täglich die individuellen Züge schlechter merke und ich dir ungern eine Geschichte gebe die aussieht wie ein Abstraktum -- weil ich der Sache35 immer gewohnter wurde -- und am meisten, weil ich nicht dachte, daß du es erwartetest.
deinen Freundinnen) das, was du mir ſonſt in Leipzig zu wenig zu haben ſchieneſt, daß du dich am Ende zu weich für einen freien Genus des Lebens machſt.
Von den alten Geſelſchaften foderte ich blos die Nachſicht in den neuen — weiter nichts; aber dieſe gaben mir die Höfer nicht immer.5
„Er glaubte weil er alles erriethe ꝛc.!“ Ich glaubte es nie, weil ich weis, daß ich wegen meiner Phantaſie gar nichts anfangs richtig ſehe und alſo das erſtemal alle Dinge, Menſchen, Gegenden, Bücher, Muſik, ꝛc. zu gut finde.
„Er hielt mich für eitler als ich war und ich war es am meiſten10 „gegen ihn ꝛc.“ Das iſt ſehr eitel und hart; aber ich fand dieſe Eitelkeit nie gegen mich bei dir und ich verſtehe dich auch nicht ganz: ich war mit allem bei dir zufrieden und dachte, du ſeieſt es auch. Ich denke bei niemand, den ich liebe, daran, noch achtzugeben im Taumel der Liebe — ich ſehe nichts — ich ſcheine nichts — und freue mich blos. Wo ich15 dich der Eitelkeit ſehr ſchuldig fand und dir einen erkälteten Brief ſchrieb, war da du in Bayreuth wareſt.
„Ach es iſt viel vergangen und es wird noch mehr vergehen.“ Jeder Glockenſchlag iſt für mich das Leichengeläute der ſterbenden Emp- findungen, aber auch das Kindtaufsgeläute der neuen. Ach die20 20jährigen Freundſchaftsgefühle, die 20jährigen Entzückungen der[17] Liebe ſind hinunter und kommen in keinem irdiſchen Morgen herauf; aber wie alte Sterne untergehen, ſo gehen neue herauf. Keine Emp- findung bleibt dieſelbe; aber was über ihr geboren wird, iſt ſchöner und das neue Herz iſt blos oft unglüklicher, aber nicht kälter als das25 alte. Darüber kan man nur ein Buch ſchreiben. Es iſt nichts verblüht; der wachſende Sprösling wirft im Herbſt ſeine Blätter ab, und ſpäter einmal ſeine jungen Blüten, aber endlich ſteht er doch erſt in vol- endeten: der Menſch hat viele Frühlinge und keinen Winter.
Warum ich dir ſo wenig zulezt von meinen Fatis erzählte? — Ach30 wie kindlich-unſchuldig ſteh ich hier vor mir! — weil mich die ewige Wiederkehr meines Ichs ekelte — weil ich immer nur von meinen Briefen und von meinen Räuchermeiſtern zu ſagen hatte — weil ich täglich die individuellen Züge ſchlechter merke und ich dir ungern eine Geſchichte gebe die ausſieht wie ein Abſtraktum — weil ich der Sache35 immer gewohnter wurde — und am meiſten, weil ich nicht dachte, daß du es erwarteteſt.
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[15/0020]
deinen Freundinnen) das, was du mir ſonſt in Leipzig zu wenig zu
haben ſchieneſt, daß du dich am Ende zu weich für einen freien Genus
des Lebens machſt.
Von den alten Geſelſchaften foderte ich blos die Nachſicht in den
neuen — weiter nichts; aber dieſe gaben mir die Höfer nicht immer. 5
„Er glaubte weil er alles erriethe ꝛc.!“ Ich glaubte es nie, weil ich
weis, daß ich wegen meiner Phantaſie gar nichts anfangs richtig ſehe
und alſo das erſtemal alle Dinge, Menſchen, Gegenden, Bücher,
Muſik, ꝛc. zu gut finde.
„Er hielt mich für eitler als ich war und ich war es am meiſten 10
„gegen ihn ꝛc.“ Das iſt ſehr eitel und hart; aber ich fand dieſe Eitelkeit
nie gegen mich bei dir und ich verſtehe dich auch nicht ganz: ich war
mit allem bei dir zufrieden und dachte, du ſeieſt es auch. Ich denke bei
niemand, den ich liebe, daran, noch achtzugeben im Taumel der Liebe
— ich ſehe nichts — ich ſcheine nichts — und freue mich blos. Wo ich 15
dich der Eitelkeit ſehr ſchuldig fand und dir einen erkälteten Brief
ſchrieb, war da du in Bayreuth wareſt.
„Ach es iſt viel vergangen und es wird noch mehr vergehen.“ Jeder
Glockenſchlag iſt für mich das Leichengeläute der ſterbenden Emp-
findungen, aber auch das Kindtaufsgeläute der neuen. Ach die 20
20jährigen Freundſchaftsgefühle, die 20jährigen Entzückungen der
Liebe ſind hinunter und kommen in keinem irdiſchen Morgen herauf;
aber wie alte Sterne untergehen, ſo gehen neue herauf. Keine Emp-
findung bleibt dieſelbe; aber was über ihr geboren wird, iſt ſchöner
und das neue Herz iſt blos oft unglüklicher, aber nicht kälter als das 25
alte. Darüber kan man nur ein Buch ſchreiben. Es iſt nichts verblüht;
der wachſende Sprösling wirft im Herbſt ſeine Blätter ab, und ſpäter
einmal ſeine jungen Blüten, aber endlich ſteht er doch erſt in vol-
endeten: der Menſch hat viele Frühlinge und keinen Winter.
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Warum ich dir ſo wenig zulezt von meinen Fatis erzählte? — Ach 30
wie kindlich-unſchuldig ſteh ich hier vor mir! — weil mich die ewige
Wiederkehr meines Ichs ekelte — weil ich immer nur von meinen
Briefen und von meinen Räuchermeiſtern zu ſagen hatte — weil ich
täglich die individuellen Züge ſchlechter merke und ich dir ungern eine
Geſchichte gebe die ausſieht wie ein Abſtraktum — weil ich der Sache 35
immer gewohnter wurde — und am meiſten, weil ich nicht dachte, daß
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/20>, abgerufen am 24.07.2024.
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