entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz- fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung -- was gerade schwer ist -- unter den Prägstok der Moral zu bringen. Es ist dem eiteln Menschen leichter, die Lumpen der Mönche anzulegen als ein simples Kleid. Man solte denken, wenn man lieset, daß so viele Brami-5 nen 50 Jahre lange aus Religion in die Sonne oder auf die Nase sehen, auf Einem Beine stehen, Schlaf entrathen und die höchsten Martern an sich fortsezen -- oder daß so viele unserer Mönche und Heiligen sich todt geiseln, todt beten, todt hungern, -- -- man solte denken, sag' ich, solche Aufopferungen müsten die kleinern, die die Tugend fodert, voraussezen10 und es müste eben so viele Tugendhafte als Heilige und Märtyrer geben .... Und es ist doch nicht so: die Ursache ist, alle jene Büssungen, jene Zeremonien vertragen sich leicht mit der grösten Wildnis des Herzens und es ist viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein einziges Reglement aus der Thora des Gewissens zu befolgen. Dazu15 macht der talmudische Sachsenspiegel den Menschen kleinlich und eng: die edle Seele steigt über religiöse Zeremonien so gut auf als über bürgerliche und dringt in den reinen grossen Himmel. Noch in der andern Welt werden wir auf unsere Tugenden, Aufopferungen und Thränen in dieser ohne Verachtung niederblicken; aber vergängliche20 Dinge, solche wie Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben so gut das Gegentheil geboten sein könte, müssen uns dort winzig erscheinen wie die warme Erdenkruste des Körpers, an den sie gebunden sind. Ueber- haupt hängt Ihrer sonst scharfsinnigen Nazion -- deren Physiognomie durchgängig die scharfe mit vordringenden festen Gesichttheilen[71]25 schneidende des Scharfsins ist (ich habe noch an keinem Juden die wie eine Wanze zerdrükte Kalmükennase bemerkt) -- etwas mikrologisches an, was ich gern zum Sohne des Talmuds und der Masora **) machen
*) Unter Zeremonien mein' ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das mir nicht mein Gewissen, sondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle30 Verschiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein' ich den Ge- horsam gegen das erhabene Gesez, das von einer Zone zur andern in jedem Busen, im braunrothen und im negerschwarzen mit gestirnten Zügen brent.
**) Dürftig ists doch, wenn der Masoreth aufsummiert, wie oft z. B. vor- kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß r im 3 B. Mos. XI, 42. im Wort gkhovn der35 mittelste Buchstab im Pentateuch ist oder daß blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter vorkommen.
entkräftet durch Zeremonien *) die Tugend. Man kan nach dem Münz- fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung — was gerade ſchwer iſt — unter den Prägſtok der Moral zu bringen. Es iſt dem eiteln Menſchen leichter, die Lumpen der Mönche anzulegen als ein ſimples Kleid. Man ſolte denken, wenn man lieſet, daß ſo viele Brami-5 nen 50 Jahre lange aus Religion in die Sonne oder auf die Naſe ſehen, auf Einem Beine ſtehen, Schlaf entrathen und die höchſten Martern an ſich fortſezen — oder daß ſo viele unſerer Mönche und Heiligen ſich todt geiſeln, todt beten, todt hungern, — — man ſolte denken, ſag’ ich, ſolche Aufopferungen müſten die kleinern, die die Tugend fodert, vorausſezen10 und es müſte eben ſo viele Tugendhafte als Heilige und Märtyrer geben .... Und es iſt doch nicht ſo: die Urſache iſt, alle jene Büſſungen, jene Zeremonien vertragen ſich leicht mit der gröſten Wildnis des Herzens und es iſt viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein einziges Reglement aus der Thora des Gewiſſens zu befolgen. Dazu15 macht der talmudiſche Sachſenſpiegel den Menſchen kleinlich und eng: die edle Seele ſteigt über religiöſe Zeremonien ſo gut auf als über bürgerliche und dringt in den reinen groſſen Himmel. Noch in der andern Welt werden wir auf unſere Tugenden, Aufopferungen und Thränen in dieſer ohne Verachtung niederblicken; aber vergängliche20 Dinge, ſolche wie Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben ſo gut das Gegentheil geboten ſein könte, müſſen uns dort winzig erſcheinen wie die warme Erdenkruſte des Körpers, an den ſie gebunden ſind. Ueber- haupt hängt Ihrer ſonſt ſcharfſinnigen Nazion — deren Phyſiognomie durchgängig die ſcharfe mit vordringenden feſten Geſichttheilen[71]25 ſchneidende des Scharfſins iſt (ich habe noch an keinem Juden die wie eine Wanze zerdrükte Kalmükennaſe bemerkt) — etwas mikrologiſches an, was ich gern zum Sohne des Talmuds und der Maſora **) machen
*) Unter Zeremonien mein’ ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das mir nicht mein Gewiſſen, ſondern eine Offenbarung diktieret und das daher alle30 Verſchiedenheiten der Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein’ ich den Ge- horſam gegen das erhabene Geſez, das von einer Zone zur andern in jedem Buſen, im braunrothen und im negerſchwarzen mit geſtirnten Zügen brent.
**) Dürftig iſts doch, wenn der Maſoreth aufſummiert, wie oft z. B. א vor- kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß ר im 3 B. Moſ. XI, 42. im Wort גחֹון der35 mittelſte Buchſtab im Pentateuch iſt oder daß blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter vorkommen.
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horſam gegen das erhabene Geſez, das von einer Zone zur andern in jedem Buſen,
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**) Dürftig iſts doch, wenn der Maſoreth aufſummiert, wie oft z. B. א vor-
kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß ר im 3 B. Moſ. XI, 42. im Wort גחֹון der 35
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
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(2016-11-22T15:02:06Z)
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Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/86>, abgerufen am 30.07.2024.
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