Ich nehme mit der innersten Seele an dem Aufreissen und Ein- wühlen in alle Ihre Narben Theil. Alles was Sie verlangen, thu' ich heute schriftlich. Wollen wir aber jezt neben dem Schmerze auch die5 Vernunft hören. Ich wolte fast gewis voraussagen, daß Er Einmal nach der Lesung meines Briefes kömt; -- und soviel ist auch jezt genug, da die Feiertage ohnehin bald den 2ten Besuch herbeiführen --; aber vor Mitwochs, oder Donnerstags ist diese Erscheinung wegen des zu nahen Bezugs auf den gestrigen Kampf, schwerlich möglich. Sie thun10 sehr Unrecht, mich auf fremde Kosten zu loben: in meinen Verhält- nissen würde er dasselbe weiche Schonen fremder Wunden haben, ja mich in der launenlosen Festigkeit und Beständigkeit noch übertreffen. Seine Verhältnisse kennen Sie nicht wie ich, um ihn eben so moralisch- tadellos zu finden wie ich. Machen Sie sich aber nur nicht aus einer15 nahen Wolke einen ganz schwarzen Himmel -- als wenn dieses Viertel- jahr (denn dann, oder eher ist alles Düstere entflohen) nicht zu über- dauern wäre. Sol denn die Traurigkeit die einzige Leidenschaft sein, die allein genähret, aber nicht gezügelt zu werden verdient? -- Erinnern Sie sich nur wie Sie bei jedem häuslichen Zank oder auswärtigen Mis-20 verständnis gerade die jezigen Proph[ez]eiungen der Zukunft machten -- und durch den nächsten Zufal war alles wieder erleuchtet und ver- schwunden. -- Abends geh' ich zu Ihm; und beim Fortgehen geb' ich ihm den Brief. -- Leben Sie wol -- Der Himmel halte das Haupt der gebükten Blume und nehme die schweren Gewittertropfen weg und geb25 ihr seine Sonne und seinen Morgen wieder.
Ihr Freund.
82. An Christian Otto.
Hof. d. 23 März 1795.30
Was ich jezt schreibe, lieber O., ist halb eine Bitte halb eine Frage. Ich werde dir heute abends das gestrige Verbal-Boxen drunten, er- zählen. Drunten hängen einem nichts als Schwerter über den Kopf und auf Degenspizen geht man -- aber alle diese Spizen, (vom wilden Vater und vom niedrig-neckenden Bruder) vereinigen sich nur in Einer35 Wunde: gegen A[möne] ist alles gekehrt. Ich mag dir nichts von ihren
[57]81. An Amöne Herold.
Eilig
Hof. d. 23 März 95 [Montag].
Ich nehme mit der innerſten Seele an dem Aufreiſſen und Ein- wühlen in alle Ihre Narben Theil. Alles was Sie verlangen, thu’ ich heute ſchriftlich. Wollen wir aber jezt neben dem Schmerze auch die5 Vernunft hören. Ich wolte faſt gewis vorausſagen, daß Er Einmal nach der Leſung meines Briefes kömt; — und ſoviel iſt auch jezt genug, da die Feiertage ohnehin bald den 2ten Beſuch herbeiführen —; aber vor Mitwochs, oder Donnerſtags iſt dieſe Erſcheinung wegen des zu nahen Bezugs auf den geſtrigen Kampf, ſchwerlich möglich. Sie thun10 ſehr Unrecht, mich auf fremde Koſten zu loben: in meinen Verhält- niſſen würde er daſſelbe weiche Schonen fremder Wunden haben, ja mich in der launenloſen Feſtigkeit und Beſtändigkeit noch übertreffen. Seine Verhältniſſe kennen Sie nicht wie ich, um ihn eben ſo moraliſch- tadellos zu finden wie ich. Machen Sie ſich aber nur nicht aus einer15 nahen Wolke einen ganz ſchwarzen Himmel — als wenn dieſes Viertel- jahr (denn dann, oder eher iſt alles Düſtere entflohen) nicht zu über- dauern wäre. Sol denn die Traurigkeit die einzige Leidenſchaft ſein, die allein genähret, aber nicht gezügelt zu werden verdient? — Erinnern Sie ſich nur wie Sie bei jedem häuslichen Zank oder auswärtigen Mis-20 verſtändnis gerade die jezigen Proph[ez]eiungen der Zukunft machten — und durch den nächſten Zufal war alles wieder erleuchtet und ver- ſchwunden. — Abends geh’ ich zu Ihm; und beim Fortgehen geb’ ich ihm den Brief. — Leben Sie wol — Der Himmel halte das Haupt der gebükten Blume und nehme die ſchweren Gewittertropfen weg und geb25 ihr ſeine Sonne und ſeinen Morgen wieder.
Ihr Freund.
82. An Chriſtian Otto.
Hof. d. 23 März 1795.30
Was ich jezt ſchreibe, lieber O., iſt halb eine Bitte halb eine Frage. Ich werde dir heute abends das geſtrige Verbal-Boxen drunten, er- zählen. Drunten hängen einem nichts als Schwerter über den Kopf und auf Degenſpizen geht man — aber alle dieſe Spizen, (vom wilden Vater und vom niedrig-neckenden Bruder) vereinigen ſich nur in Einer35 Wunde: gegen A[möne] iſt alles gekehrt. Ich mag dir nichts von ihren
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81. An Amöne Herold.
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Ich nehme mit der innerſten Seele an dem Aufreiſſen und Ein-
wühlen in alle Ihre Narben Theil. Alles was Sie verlangen, thu’ ich
heute ſchriftlich. Wollen wir aber jezt neben dem Schmerze auch die 5
Vernunft hören. Ich wolte faſt gewis vorausſagen, daß Er Einmal
nach der Leſung meines Briefes kömt; — und ſoviel iſt auch jezt genug,
da die Feiertage ohnehin bald den 2ten Beſuch herbeiführen —; aber
vor Mitwochs, oder Donnerſtags iſt dieſe Erſcheinung wegen des zu
nahen Bezugs auf den geſtrigen Kampf, ſchwerlich möglich. Sie thun 10
ſehr Unrecht, mich auf fremde Koſten zu loben: in meinen Verhält-
niſſen würde er daſſelbe weiche Schonen fremder Wunden haben, ja
mich in der launenloſen Feſtigkeit und Beſtändigkeit noch übertreffen.
Seine Verhältniſſe kennen Sie nicht wie ich, um ihn eben ſo moraliſch-
tadellos zu finden wie ich. Machen Sie ſich aber nur nicht aus einer 15
nahen Wolke einen ganz ſchwarzen Himmel — als wenn dieſes Viertel-
jahr (denn dann, oder eher iſt alles Düſtere entflohen) nicht zu über-
dauern wäre. Sol denn die Traurigkeit die einzige Leidenſchaft ſein, die
allein genähret, aber nicht gezügelt zu werden verdient? — Erinnern
Sie ſich nur wie Sie bei jedem häuslichen Zank oder auswärtigen Mis- 20
verſtändnis gerade die jezigen Proph[ez]eiungen der Zukunft machten
— und durch den nächſten Zufal war alles wieder erleuchtet und ver-
ſchwunden. — Abends geh’ ich zu Ihm; und beim Fortgehen geb’ ich
ihm den Brief. — Leben Sie wol — Der Himmel halte das Haupt der
gebükten Blume und nehme die ſchweren Gewittertropfen weg und geb 25
ihr ſeine Sonne und ſeinen Morgen wieder.
Ihr
Freund.
82. An Chriſtian Otto.
Hof. d. 23 März 1795. 30
Was ich jezt ſchreibe, lieber O., iſt halb eine Bitte halb eine Frage.
Ich werde dir heute abends das geſtrige Verbal-Boxen drunten, er-
zählen. Drunten hängen einem nichts als Schwerter über den Kopf und
auf Degenſpizen geht man — aber alle dieſe Spizen, (vom wilden
Vater und vom niedrig-neckenden Bruder) vereinigen ſich nur in Einer 35
Wunde: gegen A[möne] iſt alles gekehrt. Ich mag dir nichts von ihren
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/73>, abgerufen am 28.11.2024.
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