Wenige zu Tagbüchern. -- Ihres ist nach meinem Gefühl ein schönes sanftes Echo dessen, was sonst in der Seele zu leise ist, um herauszutönen. Es giebt eigentlich nur stumme Tugenden, nicht stumme Sünden -- das Edlere in uns, die heiligsten Gefühle fliehen am ersten das Licht und das Auge und hüllen sich, für ein ganz anderes5 Leben blühend, gern verborgen ans Herz -- aber eben das Schlimmere wird von der geistigen Natur wie böse Säfte auf die äussere Haut herausgetrieben, um nur desselben los zu werden: ein Bösewicht ist[44] sicher froh, wenn die Übelthat vorüber ist, weil er dan seine Seele nicht länger mit dem Entschlusse dazu zu beschmuzen braucht.10
Nur gute Menschen können Tagebücher machen, Lebensprotokolle, gleichsam Hauptbücher unserer moralischen Bilanzen. Wäre das nicht, so würd' ich mich wundern, daß so wenige Menschen Annalen ihrer kleinen entflatternden Tage machen. Warlich wir Menschen sind überal Narren und saugen uns wie Schmarozerpflanzen mit unserem15 Ich nur immer an auf fremden Ich's: denn die römische -- die brandenburgische -- die sinesische -- die hottentottische Geschichte drücken wir mit allen ihren leeren Fürsten in die Seele ein; aber unsere eigne werfen wir als eine ausgekernte Hülse weg von uns: wir selber, unsere lebendigen Tage sind uns weniger als öde kahle Zahlen und20 Sagen vor der Sündfluth, da doch unser Leben, weil die Gegenwart nur aus hüpfenden Sekunden, die Vergangenheit aber aus Jahren besteht, nichts ist als ein fortwährendes Erinnern des Lebens. Die ganze Geschichte ist, insofern sie ein Gewächs des Gedächtnisses ist, nichts als eine saft- und kraftlose Distel für pedantische Stieglizen;25 aber in sofern ist sie wie die Natur alles werth, inwiefern wir aus ihr, wie aus dieser, den unendlichen Geist errathen und ablesen, der mit der Natur und der Geschichte wie mit Buchstaben an uns -- schreibt. Wer einen Gott in der physischen Welt findet, findet auch einen in der moralischen, welches die Geschichte ist: die Natur dringet unserem30 Herzen einen Schöpfer, die Geschichte eine Vorsehung auf. Aber, (zurükzukommen,) wenn wir götliche Fusstapfen im grossen langen Gange der Weltgeschichte aufsuchen: warum wollen wir sie nicht noch lieber in den kleinern Tritten unsers Lebens studieren und Tagebücher machen? Denn wenn einmal irgend eine Hand den Zügel und das35 Laufband der ganzen Welt regiert: so mus sie auch, da die Welt ja aus nichts als Individuen besteht, eben das Individuum versorgen,
4*
Wenige zu Tagbüchern. — Ihres iſt nach meinem Gefühl ein ſchönes ſanftes Echo deſſen, was ſonſt in der Seele zu leiſe iſt, um herauszutönen. Es giebt eigentlich nur ſtumme Tugenden, nicht ſtumme Sünden — das Edlere in uns, die heiligſten Gefühle fliehen am erſten das Licht und das Auge und hüllen ſich, für ein ganz anderes5 Leben blühend, gern verborgen ans Herz — aber eben das Schlimmere wird von der geiſtigen Natur wie böſe Säfte auf die äuſſere Haut herausgetrieben, um nur deſſelben los zu werden: ein Böſewicht iſt[44] ſicher froh, wenn die Übelthat vorüber iſt, weil er dan ſeine Seele nicht länger mit dem Entſchluſſe dazu zu beſchmuzen braucht.10
Nur gute Menſchen können Tagebücher machen, Lebensprotokolle, gleichſam Hauptbücher unſerer moraliſchen Bilanzen. Wäre das nicht, ſo würd’ ich mich wundern, daß ſo wenige Menſchen Annalen ihrer kleinen entflatternden Tage machen. Warlich wir Menſchen ſind überal Narren und ſaugen uns wie Schmarozerpflanzen mit unſerem15 Ich nur immer an auf fremden Ich’s: denn die römiſche — die brandenburgiſche — die ſineſiſche — die hottentottiſche Geſchichte drücken wir mit allen ihren leeren Fürſten in die Seele ein; aber unſere eigne werfen wir als eine ausgekernte Hülſe weg von uns: wir ſelber, unſere lebendigen Tage ſind uns weniger als öde kahle Zahlen und20 Sagen vor der Sündfluth, da doch unſer Leben, weil die Gegenwart nur aus hüpfenden Sekunden, die Vergangenheit aber aus Jahren beſteht, nichts iſt als ein fortwährendes Erinnern des Lebens. Die ganze Geſchichte iſt, inſofern ſie ein Gewächs des Gedächtniſſes iſt, nichts als eine ſaft- und kraftloſe Diſtel für pedantiſche Stieglizen;25 aber in ſofern iſt ſie wie die Natur alles werth, inwiefern wir aus ihr, wie aus dieſer, den unendlichen Geiſt errathen und ableſen, der mit der Natur und der Geſchichte wie mit Buchſtaben an uns — ſchreibt. Wer einen Gott in der phyſiſchen Welt findet, findet auch einen in der moraliſchen, welches die Geſchichte iſt: die Natur dringet unſerem30 Herzen einen Schöpfer, die Geſchichte eine Vorſehung auf. Aber, (zurükzukommen,) wenn wir götliche Fusſtapfen im groſſen langen Gange der Weltgeſchichte aufſuchen: warum wollen wir ſie nicht noch lieber in den kleinern Tritten unſers Lebens ſtudieren und Tagebücher machen? Denn wenn einmal irgend eine Hand den Zügel und das35 Laufband der ganzen Welt regiert: ſo mus ſie auch, da die Welt ja aus nichts als Individuen beſteht, eben das Individuum verſorgen,
4*
<TEI><text><body><divtype="letter"n="1"><pbfacs="#f0060"n="51"/><p>Wenige zu Tagbüchern. — Ihres iſt nach meinem Gefühl ein<lb/>ſchönes ſanftes Echo deſſen, was ſonſt in der Seele zu leiſe iſt, um<lb/>
herauszutönen. Es giebt eigentlich nur ſtumme Tugenden, nicht<lb/>ſtumme Sünden — das Edlere in uns, die heiligſten Gefühle fliehen am<lb/>
erſten das Licht und das Auge und hüllen ſich, für ein ganz anderes<lbn="5"/>
Leben blühend, gern verborgen ans Herz — aber eben das Schlimmere<lb/>
wird von der geiſtigen Natur wie böſe Säfte auf die äuſſere Haut<lb/>
herausgetrieben, um nur deſſelben los zu werden: ein Böſewicht iſt<noteplace="right"><reftarget="1922_Bd2_44">[44]</ref></note><lb/>ſicher froh, wenn die Übelthat vorüber iſt, weil er dan ſeine Seele<lb/>
nicht länger mit dem Entſchluſſe dazu zu beſchmuzen braucht.<lbn="10"/></p><p>Nur gute Menſchen können Tagebücher machen, Lebensprotokolle,<lb/>
gleichſam Hauptbücher unſerer moraliſchen Bilanzen. Wäre das nicht,<lb/>ſo würd’ ich mich wundern, daß ſo wenige Menſchen Annalen ihrer<lb/>
kleinen entflatternden Tage machen. Warlich wir Menſchen ſind<lb/>
überal Narren und ſaugen uns wie Schmarozerpflanzen mit unſerem<lbn="15"/>
Ich nur immer an auf fremden Ich’s: denn die römiſche — die<lb/>
brandenburgiſche — die ſineſiſche — die hottentottiſche Geſchichte<lb/>
drücken wir mit allen ihren leeren Fürſten in die Seele ein; aber unſere<lb/>
eigne werfen wir als eine ausgekernte Hülſe weg von uns: wir ſelber,<lb/>
unſere lebendigen Tage ſind uns weniger als öde kahle Zahlen und<lbn="20"/>
Sagen vor der Sündfluth, da doch unſer Leben, weil die Gegenwart<lb/>
nur aus hüpfenden Sekunden, die Vergangenheit aber aus Jahren<lb/>
beſteht, nichts iſt als ein fortwährendes Erinnern des Lebens. Die<lb/>
ganze Geſchichte iſt, inſofern ſie ein Gewächs des Gedächtniſſes iſt,<lb/>
nichts als eine ſaft- und kraftloſe Diſtel für pedantiſche Stieglizen;<lbn="25"/>
aber in ſofern iſt ſie wie die Natur alles werth, inwiefern wir aus ihr,<lb/>
wie aus dieſer, den unendlichen Geiſt errathen und ableſen, der mit der<lb/>
Natur und der Geſchichte wie mit Buchſtaben an uns —ſchreibt. Wer<lb/>
einen Gott in der phyſiſchen Welt findet, findet auch einen in der<lb/>
moraliſchen, welches die Geſchichte iſt: die Natur dringet unſerem<lbn="30"/>
Herzen einen Schöpfer, die Geſchichte eine Vorſehung auf. Aber,<lb/>
(zurükzukommen,) wenn wir götliche Fusſtapfen im groſſen langen<lb/>
Gange der Weltgeſchichte aufſuchen: warum wollen wir ſie nicht noch<lb/>
lieber in den kleinern Tritten unſers Lebens ſtudieren und Tagebücher<lb/>
machen? Denn wenn einmal irgend eine Hand den Zügel und das<lbn="35"/>
Laufband der ganzen Welt regiert: ſo mus ſie auch, da die Welt ja<lb/>
aus nichts als Individuen beſteht, eben das Individuum verſorgen,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">4*</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[51/0060]
Wenige zu Tagbüchern. — Ihres iſt nach meinem Gefühl ein
ſchönes ſanftes Echo deſſen, was ſonſt in der Seele zu leiſe iſt, um
herauszutönen. Es giebt eigentlich nur ſtumme Tugenden, nicht
ſtumme Sünden — das Edlere in uns, die heiligſten Gefühle fliehen am
erſten das Licht und das Auge und hüllen ſich, für ein ganz anderes 5
Leben blühend, gern verborgen ans Herz — aber eben das Schlimmere
wird von der geiſtigen Natur wie böſe Säfte auf die äuſſere Haut
herausgetrieben, um nur deſſelben los zu werden: ein Böſewicht iſt
ſicher froh, wenn die Übelthat vorüber iſt, weil er dan ſeine Seele
nicht länger mit dem Entſchluſſe dazu zu beſchmuzen braucht. 10
[44]Nur gute Menſchen können Tagebücher machen, Lebensprotokolle,
gleichſam Hauptbücher unſerer moraliſchen Bilanzen. Wäre das nicht,
ſo würd’ ich mich wundern, daß ſo wenige Menſchen Annalen ihrer
kleinen entflatternden Tage machen. Warlich wir Menſchen ſind
überal Narren und ſaugen uns wie Schmarozerpflanzen mit unſerem 15
Ich nur immer an auf fremden Ich’s: denn die römiſche — die
brandenburgiſche — die ſineſiſche — die hottentottiſche Geſchichte
drücken wir mit allen ihren leeren Fürſten in die Seele ein; aber unſere
eigne werfen wir als eine ausgekernte Hülſe weg von uns: wir ſelber,
unſere lebendigen Tage ſind uns weniger als öde kahle Zahlen und 20
Sagen vor der Sündfluth, da doch unſer Leben, weil die Gegenwart
nur aus hüpfenden Sekunden, die Vergangenheit aber aus Jahren
beſteht, nichts iſt als ein fortwährendes Erinnern des Lebens. Die
ganze Geſchichte iſt, inſofern ſie ein Gewächs des Gedächtniſſes iſt,
nichts als eine ſaft- und kraftloſe Diſtel für pedantiſche Stieglizen; 25
aber in ſofern iſt ſie wie die Natur alles werth, inwiefern wir aus ihr,
wie aus dieſer, den unendlichen Geiſt errathen und ableſen, der mit der
Natur und der Geſchichte wie mit Buchſtaben an uns — ſchreibt. Wer
einen Gott in der phyſiſchen Welt findet, findet auch einen in der
moraliſchen, welches die Geſchichte iſt: die Natur dringet unſerem 30
Herzen einen Schöpfer, die Geſchichte eine Vorſehung auf. Aber,
(zurükzukommen,) wenn wir götliche Fusſtapfen im groſſen langen
Gange der Weltgeſchichte aufſuchen: warum wollen wir ſie nicht noch
lieber in den kleinern Tritten unſers Lebens ſtudieren und Tagebücher
machen? Denn wenn einmal irgend eine Hand den Zügel und das 35
Laufband der ganzen Welt regiert: ſo mus ſie auch, da die Welt ja
aus nichts als Individuen beſteht, eben das Individuum verſorgen,
4*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/60>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.