Gehen in diesem vollen befruchteten und überblühten Paradiese so viele verlorne meiner Phantasie wieder zu finden. Ach warum wird dem Menschen alles so spät gegeben und die besten Walnüsse erst, wenn [374]ihm vorn ein Hauptzahn fehlt? -- Sogar der Hofrath -- sie ohnehin mit ihrem ewig-jungen Auge -- gefält mir immermehr. 2 Loth5 Voigtisches Pulver hat er bei mir käuflich abgesezt, nachdem ich abends gratis (nach der grösten Erhizung als Freudenmeister und als Clavizembalist) eine Probe-Messerspize genommen. Da ich troz der Erhizung keine Kopfschmerzen bekam, so bin ich nun ein Proselyt und Apostel des Pulvers. Beide Leute erinnern sich mit der zärtlichsten und10 sehnsüchtigsten Achtung deiner; und das thun alle deine Wirthe -- Schäfer und sie -- und deine Mitgästin, die Fürstin, die dich ungemein liebhat. Ich habe es nicht aus ihrem Munde -- denn der war samt Rest 1 Tag vor mir schon abgereiset -- sondern von Schäfer. -- Das Fischersche Ehepaar hat mir bessere Federn (zumal eine neu an-15 geschnittene aus Frankfurt am Main) gestohlen als ich hier führe. -- Ich laufe hier meinen gewöhnlichen Zodiakus von Häusern durch: ich werde dir nicht viel zu erzählen haben. Dienstags geh ich hier ab. -- Vor euch erscheinet ein Mensch veränderlich im Geschmak, weil er, der aus einem 30jährigen einsamen Isolatorio und Bicetre herauskam20 und der vorher darin weder Städte noch Mädgen noch Bälle noch Leute gesehen, nun die allerersten, die er vor der Kerkerschwelle antraf, natürlicher weise für herlich ausschrie (denn er verglich alles mit den Ratten und Ketten und Mauerflecken seines Bicetre) und weil er nachher über der Schwelle draussen oft anderer Meinung wurde,25 wenn er sich umsah und verglich: besagter Mensch war und ist später gar nicht veränderlich ....
Wäre meine Zeit nicht in Hof so bang-enge zugeschnitten und mit so vielen Allotrien verkürzt: so vergäss' ich hier bei unserem Doppelbruder die Zeit. Ich wil nach Jena. In Leipzig wil ich wild und hart gegen30 jeden Zeitdieb sein und einmal anfangen, meine Schreibereien nicht mehr für Brunnenbelustigungen im Badorte des Lebens, sondern für ex officio's anzusehen. Lebe wohl, Lieber! Emanuel grüsset dich, ohne es mir vorher gesagt zu haben. Ich bedauer' es seinetwegen, daß ihn in Hof nicht das Fischersche Paar gesucht: du möchtest dan ihm, denn35 der Grund wäre derselbe, sowohl geschrieben haben als mir.
Leb wohl Lieber! R.
Gehen in dieſem vollen befruchteten und überblühten Paradieſe ſo viele verlorne meiner Phantaſie wieder zu finden. Ach warum wird dem Menſchen alles ſo ſpät gegeben und die beſten Walnüſſe erſt, wenn [374]ihm vorn ein Hauptzahn fehlt? — Sogar der Hofrath — ſie ohnehin mit ihrem ewig-jungen Auge — gefält mir immermehr. 2 Loth5 Voigtiſches Pulver hat er bei mir käuflich abgeſezt, nachdem ich abends gratis (nach der gröſten Erhizung als Freudenmeiſter und als Clavizembaliſt) eine Probe-Meſſerſpize genommen. Da ich troz der Erhizung keine Kopfſchmerzen bekam, ſo bin ich nun ein Proſelyt und Apoſtel des Pulvers. Beide Leute erinnern ſich mit der zärtlichſten und10 ſehnſüchtigſten Achtung deiner; und das thun alle deine Wirthe — Schäfer und ſie — und deine Mitgäſtin, die Fürſtin, die dich ungemein liebhat. Ich habe es nicht aus ihrem Munde — denn der war ſamt Reſt 1 Tag vor mir ſchon abgereiſet — ſondern von Schäfer. — Das Fiſcherſche Ehepaar hat mir beſſere Federn (zumal eine neu an-15 geſchnittene aus Frankfurt am Main) geſtohlen als ich hier führe. — Ich laufe hier meinen gewöhnlichen Zodiakus von Häuſern durch: ich werde dir nicht viel zu erzählen haben. Dienſtags geh ich hier ab. — Vor euch erſcheinet ein Menſch veränderlich im Geſchmak, weil er, der aus einem 30jährigen einſamen Iſolatorio und Bicêtre herauskam20 und der vorher darin weder Städte noch Mädgen noch Bälle noch Leute geſehen, nun die allererſten, die er vor der Kerkerſchwelle antraf, natürlicher weiſe für herlich ausſchrie (denn er verglich alles mit den Ratten und Ketten und Mauerflecken ſeines Bicetre) und weil er nachher über der Schwelle drauſſen oft anderer Meinung wurde,25 wenn er ſich umſah und verglich: beſagter Menſch war und iſt ſpäter gar nicht veränderlich ....
Wäre meine Zeit nicht in Hof ſo bang-enge zugeſchnitten und mit ſo vielen Allotrien verkürzt: ſo vergäſſ’ ich hier bei unſerem Doppelbruder die Zeit. Ich wil nach Jena. In Leipzig wil ich wild und hart gegen30 jeden Zeitdieb ſein und einmal anfangen, meine Schreibereien nicht mehr für Brunnenbeluſtigungen im Badorte des Lebens, ſondern für ex officio’s anzuſehen. Lebe wohl, Lieber! Emanuel grüſſet dich, ohne es mir vorher geſagt zu haben. Ich bedauer’ es ſeinetwegen, daß ihn in Hof nicht das Fiſcherſche Paar geſucht: du möchteſt dan ihm, denn35 der Grund wäre derſelbe, ſowohl geſchrieben haben als mir.
Leb wohl Lieber! R.
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Gehen in dieſem vollen befruchteten und überblühten Paradieſe ſo
viele verlorne meiner Phantaſie wieder zu finden. Ach warum wird
dem Menſchen alles ſo ſpät gegeben und die beſten Walnüſſe erſt, wenn
ihm vorn ein Hauptzahn fehlt? — Sogar der Hofrath — ſie ohnehin
mit ihrem ewig-jungen Auge — gefält mir immermehr. 2 Loth 5
Voigtiſches Pulver hat er bei mir käuflich abgeſezt, nachdem ich
abends gratis (nach der gröſten Erhizung als Freudenmeiſter und als
Clavizembaliſt) eine Probe-Meſſerſpize genommen. Da ich troz der
Erhizung keine Kopfſchmerzen bekam, ſo bin ich nun ein Proſelyt und
Apoſtel des Pulvers. Beide Leute erinnern ſich mit der zärtlichſten und 10
ſehnſüchtigſten Achtung deiner; und das thun alle deine Wirthe —
Schäfer und ſie — und deine Mitgäſtin, die Fürſtin, die dich ungemein
liebhat. Ich habe es nicht aus ihrem Munde — denn der war ſamt
Reſt 1 Tag vor mir ſchon abgereiſet — ſondern von Schäfer. — Das
Fiſcherſche Ehepaar hat mir beſſere Federn (zumal eine neu an- 15
geſchnittene aus Frankfurt am Main) geſtohlen als ich hier führe. —
Ich laufe hier meinen gewöhnlichen Zodiakus von Häuſern durch: ich
werde dir nicht viel zu erzählen haben. Dienſtags geh ich hier ab. —
Vor euch erſcheinet ein Menſch veränderlich im Geſchmak, weil er, der
aus einem 30jährigen einſamen Iſolatorio und Bicêtre herauskam 20
und der vorher darin weder Städte noch Mädgen noch Bälle noch
Leute geſehen, nun die allererſten, die er vor der Kerkerſchwelle antraf,
natürlicher weiſe für herlich ausſchrie (denn er verglich alles mit den
Ratten und Ketten und Mauerflecken ſeines Bicetre) und weil er
nachher über der Schwelle drauſſen oft anderer Meinung wurde, 25
wenn er ſich umſah und verglich: beſagter Menſch war und iſt ſpäter
gar nicht veränderlich ....
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Wäre meine Zeit nicht in Hof ſo bang-enge zugeſchnitten und mit ſo
vielen Allotrien verkürzt: ſo vergäſſ’ ich hier bei unſerem Doppelbruder
die Zeit. Ich wil nach Jena. In Leipzig wil ich wild und hart gegen 30
jeden Zeitdieb ſein und einmal anfangen, meine Schreibereien nicht
mehr für Brunnenbeluſtigungen im Badorte des Lebens, ſondern für
ex officio’s anzuſehen. Lebe wohl, Lieber! Emanuel grüſſet dich, ohne
es mir vorher geſagt zu haben. Ich bedauer’ es ſeinetwegen, daß ihn
in Hof nicht das Fiſcherſche Paar geſucht: du möchteſt dan ihm, denn 35
der Grund wäre derſelbe, ſowohl geſchrieben haben als mir.
Leb wohl Lieber! R.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/395>, abgerufen am 22.11.2024.
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