Leben Sie wohl, mein Lieber! Einen alten Überrok brauch ich bei Ihnen, weil ich nichts mitbringe als was ich anhabe (um das ab- scheuliche Passen auf die Post und die Abhängigkeit von langen Vor- aussagungen nicht zu haben). Leben Sie wohl! Ihre Liebe ist grösser als mein Werth!5
Richter
Sontags: heute Nachmittags reis' ich, morgen Nachmittags bin ich bei Ihnen.
[372]*697. An Emilie von Berlepsch in Weimar.
Hof d. 10 Sept. 97.10
Erst gestern bekam ich Ihren Brief; über Ihr Schweigen tröstet[e] mich nur meine Kentnis der Schnecken- und Austerpost von Weimar. --
Ihr Bild hieng wie eine Sonne zwischen meinen andern Bildern, und diese hiengen als Nebensonnen um sie. Ihre lezte Stellung mit dem Leichenlicht und mit zurüksinkendem Kopfe bleibt vor dem innern15 Auge fest. --
Bayreuth d. 12 Sept.
Am Tage vor meiner Abreise wolt' ich meinen Brief volenden, und ein fremder Besuch drängte sich zwischen mich und Sie. --
Ich wil sogleich die dürre Historie abfertigen. Der Wirth, der nicht20 der Ihrige wurde, schlug jede Vergütung seiner vergeblichen Er- wartung aus. -- Mein Abzug nach Leipzig ist gewis, obwohl das Logis noch ungefunden ist. Ein schöneres Wetter hätte mich nach Weimar gelokt; ich sehne mich an das Herz meines Herders zurük, aus welchem gleichsam der Ichor eines höhern Geistes als des Nerven-25 geistes seit meiner Jugend in meines überflos. -- Und ich sehne mich nach Ihrer Seele. Aber in meiner kan noch nicht die Ruhe und Resignazion der Ihrigen wohnen. -- Plane des Lebens und des Schreibens, junge Hofnungen und tausend Wünsche sind eben so viele unruhige, zuckende und mich verwickelnde Polypenarme, die zu viel30 umgreifen wollen. Ich werde mir alle diese Arme bis auf zwei einmal abschneiden -- auf dem Lande neben meiner Frau.
Sie vermengen Algemeinheit der Liebe mit Veränderlichkeit der- selben. Ich habe nie eine Seele der andern geopfert. Die Liebe hat so viele Stufen als es menschliche Liebenswürdigkeiten giebt, und die35
Leben Sie wohl, mein Lieber! Einen alten Überrok brauch ich bei Ihnen, weil ich nichts mitbringe als was ich anhabe (um das ab- ſcheuliche Paſſen auf die Poſt und die Abhängigkeit von langen Vor- ausſagungen nicht zu haben). Leben Sie wohl! Ihre Liebe iſt gröſſer als mein Werth!5
Richter
Sontags: heute Nachmittags reiſ’ ich, morgen Nachmittags bin ich bei Ihnen.
[372]*697. An Emilie von Berlepſch in Weimar.
Hof d. 10 Sept. 97.10
Erſt geſtern bekam ich Ihren Brief; über Ihr Schweigen tröſtet[e] mich nur meine Kentnis der Schnecken- und Auſterpoſt von Weimar. —
Ihr Bild hieng wie eine Sonne zwiſchen meinen andern Bildern, und dieſe hiengen als Nebenſonnen um ſie. Ihre lezte Stellung mit dem Leichenlicht und mit zurükſinkendem Kopfe bleibt vor dem innern15 Auge feſt. —
Bayreuth d. 12 Sept.
Am Tage vor meiner Abreiſe wolt’ ich meinen Brief volenden, und ein fremder Beſuch drängte ſich zwiſchen mich und Sie. —
Ich wil ſogleich die dürre Hiſtorie abfertigen. Der Wirth, der nicht20 der Ihrige wurde, ſchlug jede Vergütung ſeiner vergeblichen Er- wartung aus. — Mein Abzug nach Leipzig iſt gewis, obwohl das Logis noch ungefunden iſt. Ein ſchöneres Wetter hätte mich nach Weimar gelokt; ich ſehne mich an das Herz meines Herders zurük, aus welchem gleichſam der Ichor eines höhern Geiſtes als des Nerven-25 geiſtes ſeit meiner Jugend in meines überflos. — Und ich ſehne mich nach Ihrer Seele. Aber in meiner kan noch nicht die Ruhe und Reſignazion der Ihrigen wohnen. — Plane des Lebens und des Schreibens, junge Hofnungen und tauſend Wünſche ſind eben ſo viele unruhige, zuckende und mich verwickelnde Polypenarme, die zu viel30 umgreifen wollen. Ich werde mir alle dieſe Arme bis auf zwei einmal abſchneiden — auf dem Lande neben meiner Frau.
Sie vermengen Algemeinheit der Liebe mit Veränderlichkeit der- ſelben. Ich habe nie eine Seele der andern geopfert. Die Liebe hat ſo viele Stufen als es menſchliche Liebenswürdigkeiten giebt, und die35
<TEI><text><body><divtype="letter"n="1"><pbfacs="#f0391"n="370"/><p>Leben Sie wohl, mein Lieber! Einen alten Überrok brauch ich bei<lb/>
Ihnen, weil ich nichts mitbringe als was ich anhabe (um das ab-<lb/>ſcheuliche Paſſen auf die Poſt und die Abhängigkeit von langen Vor-<lb/>
ausſagungen nicht zu haben). Leben Sie wohl! Ihre Liebe iſt gröſſer<lb/>
als mein Werth!<lbn="5"/></p><closer><salute><hirendition="#right">Richter</hi></salute></closer><lb/><postscript><p>Sontags: heute Nachmittags reiſ’ ich, morgen Nachmittags bin<lb/>
ich bei Ihnen.</p></postscript></div><lb/><divtype="letter"n="1"><head><noteplace="left"><reftarget="1922_Bd2_372">[372]</ref></note>*697. An <hirendition="#g">Emilie von Berlepſch in Weimar.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#right"><hirendition="#aq">Hof</hi> d. 10 Sept. 97.</hi></dateline><lbn="10"/><p>Erſt geſtern bekam ich Ihren Brief; über Ihr Schweigen tröſtet[e]<lb/>
mich nur meine Kentnis der Schnecken- und Auſterpoſt von Weimar. —</p><lb/><p>Ihr Bild hieng wie eine Sonne zwiſchen meinen andern Bildern,<lb/>
und dieſe hiengen als Nebenſonnen um ſie. Ihre lezte Stellung mit<lb/>
dem Leichenlicht und mit zurükſinkendem Kopfe bleibt vor dem innern<lbn="15"/>
Auge feſt. —</p><lb/><divn="2"><dateline><hirendition="#et"><hirendition="#aq">Bayreuth</hi> d. 12 Sept.</hi></dateline><lb/><p>Am Tage vor meiner Abreiſe wolt’ ich meinen Brief volenden, und<lb/>
ein fremder Beſuch drängte ſich zwiſchen mich und Sie. —</p><lb/><p>Ich wil ſogleich die dürre Hiſtorie abfertigen. Der Wirth, der nicht<lbn="20"/>
der Ihrige wurde, ſchlug jede Vergütung ſeiner vergeblichen Er-<lb/>
wartung aus. — Mein Abzug nach <hirendition="#aq">Leipzig</hi> iſt gewis, obwohl das<lb/>
Logis noch ungefunden iſt. Ein ſchöneres Wetter hätte mich nach<lb/>
Weimar gelokt; ich ſehne mich an das Herz meines <hirendition="#aq">Herders</hi> zurük,<lb/>
aus welchem gleichſam der Ichor eines höhern Geiſtes als des Nerven-<lbn="25"/>
geiſtes ſeit meiner Jugend in meines überflos. — Und ich ſehne mich<lb/>
nach Ihrer Seele. Aber in meiner kan noch nicht die Ruhe und<lb/>
Reſignazion der Ihrigen wohnen. — Plane des Lebens und des<lb/>
Schreibens, junge Hofnungen und tauſend Wünſche ſind eben ſo viele<lb/>
unruhige, zuckende und mich verwickelnde Polypenarme, die zu viel<lbn="30"/>
umgreifen wollen. Ich werde mir alle dieſe Arme bis auf zwei einmal<lb/>
abſchneiden — auf dem Lande neben meiner Frau.</p><lb/><p>Sie vermengen Algemeinheit der Liebe mit Veränderlichkeit der-<lb/>ſelben. Ich habe nie eine Seele der andern geopfert. Die Liebe hat ſo<lb/>
viele Stufen als es menſchliche Liebenswürdigkeiten giebt, und die<lbn="35"/></p></div></div></body></text></TEI>
[370/0391]
Leben Sie wohl, mein Lieber! Einen alten Überrok brauch ich bei
Ihnen, weil ich nichts mitbringe als was ich anhabe (um das ab-
ſcheuliche Paſſen auf die Poſt und die Abhängigkeit von langen Vor-
ausſagungen nicht zu haben). Leben Sie wohl! Ihre Liebe iſt gröſſer
als mein Werth! 5
Richter
Sontags: heute Nachmittags reiſ’ ich, morgen Nachmittags bin
ich bei Ihnen.
*697. An Emilie von Berlepſch in Weimar.
Hof d. 10 Sept. 97. 10
Erſt geſtern bekam ich Ihren Brief; über Ihr Schweigen tröſtet[e]
mich nur meine Kentnis der Schnecken- und Auſterpoſt von Weimar. —
Ihr Bild hieng wie eine Sonne zwiſchen meinen andern Bildern,
und dieſe hiengen als Nebenſonnen um ſie. Ihre lezte Stellung mit
dem Leichenlicht und mit zurükſinkendem Kopfe bleibt vor dem innern 15
Auge feſt. —
Bayreuth d. 12 Sept.
Am Tage vor meiner Abreiſe wolt’ ich meinen Brief volenden, und
ein fremder Beſuch drängte ſich zwiſchen mich und Sie. —
Ich wil ſogleich die dürre Hiſtorie abfertigen. Der Wirth, der nicht 20
der Ihrige wurde, ſchlug jede Vergütung ſeiner vergeblichen Er-
wartung aus. — Mein Abzug nach Leipzig iſt gewis, obwohl das
Logis noch ungefunden iſt. Ein ſchöneres Wetter hätte mich nach
Weimar gelokt; ich ſehne mich an das Herz meines Herders zurük,
aus welchem gleichſam der Ichor eines höhern Geiſtes als des Nerven- 25
geiſtes ſeit meiner Jugend in meines überflos. — Und ich ſehne mich
nach Ihrer Seele. Aber in meiner kan noch nicht die Ruhe und
Reſignazion der Ihrigen wohnen. — Plane des Lebens und des
Schreibens, junge Hofnungen und tauſend Wünſche ſind eben ſo viele
unruhige, zuckende und mich verwickelnde Polypenarme, die zu viel 30
umgreifen wollen. Ich werde mir alle dieſe Arme bis auf zwei einmal
abſchneiden — auf dem Lande neben meiner Frau.
Sie vermengen Algemeinheit der Liebe mit Veränderlichkeit der-
ſelben. Ich habe nie eine Seele der andern geopfert. Die Liebe hat ſo
viele Stufen als es menſchliche Liebenswürdigkeiten giebt, und die 35
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/391>, abgerufen am 30.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.