Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wanderstab aus der Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder vielmehr von der Fr. v. Berlepsch, bei der ich wohnte.5
Du hast vielleicht schon gelesen, daß das Geschik meine gute Mutter, deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wolte, mit einer langsamen stumpfen Sense von meiner Seele und von diesem Leben abgeschnitten. Ach ich würd' ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die Arme sie früher gehabt, ohne das Grab. Nun mehr ist Hof düster, eng,10 und ein drückender umschliessender Schacht für mich: der ganze Frühling und Sommer war, schon ohne die Wassersucht meiner Mutter, troz meiner Entzückung im Titan, eine schwüle Steppe für mich.
[362]Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., schon weil mein Bruder eine Universität beziehen mus und weil Erfurt nichts hat15 als Einen <Dalberg>. Ich achte die Uneigennüzigkeit deines Vor- schlags, aber ich kan es doch nicht ganz abscheulich finden, von dir und deinem Glük nicht weiter entfernt zu sein als 1 Meile. Auch die Ber- lepsch zieht nach Leipzig. Ich habe nun im Leben Einer Woche mit ihr zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache bestimte weibliche Seele20 giebt, die einen bessernden Genus, ohne Eine Ecke gewährt und aus der ich nichts wegverlangte: diese Emilie hat mich erhoben und ich sie. Lieber Oertel, dringe stärker in ihre Geschichte und Seele und du findest was ich zum erstenmale fand: so viele kühle Besonnenheit und Un- sinlichkeit bei einer idealischen Phantasie. Ich mag sie gar nicht loben:25 sie besucht dich in 14 Tagen und ihre geistigen Schleier werden, bei ihrer enthusiastischen Liebe und Achtung für dich, leicht von ihren Reizen zurükfallen.
Also lies mir eine Wohnung aus, Lieber: sie mus 1 erträgliche Stube für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine Schlafkammer für30 uns beide haben -- ferner kan sie in der Vorstadt und ohne Aussicht sein (für etwa 30 rtl.) -- Rauch und Sonnenhize und besondere Winterkälte darf sie nicht haben -- einige Möbeln (da ich mein Ge- rümpel nicht gern so weit transportiere) und sogar die Gelegenheit, mit oder von den Leuten im Hause zu essen, wären mir als ein Surrogat35 meiner eingebüsten Häuslichkeit erwünscht. Wilst du nicht suchen so lass' es Beigang thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende Ent-
676. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
Hof. 13. Aug. 97.
Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wanderſtab aus der Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder vielmehr von der Fr. v. Berlepſch, bei der ich wohnte.5
Du haſt vielleicht ſchon geleſen, daß das Geſchik meine gute Mutter, deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wolte, mit einer langſamen ſtumpfen Senſe von meiner Seele und von dieſem Leben abgeſchnitten. Ach ich würd’ ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die Arme ſie früher gehabt, ohne das Grab. Nun mehr iſt Hof düſter, eng,10 und ein drückender umſchlieſſender Schacht für mich: der ganze Frühling und Sommer war, ſchon ohne die Waſſerſucht meiner Mutter, troz meiner Entzückung im Titan, eine ſchwüle Steppe für mich.
[362]Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., ſchon weil mein Bruder eine Univerſität beziehen mus und weil Erfurt nichts hat15 als Einen <Dalberg>. Ich achte die Uneigennüzigkeit deines Vor- ſchlags, aber ich kan es doch nicht ganz abſcheulich finden, von dir und deinem Glük nicht weiter entfernt zu ſein als 1 Meile. Auch die Ber- lepsch zieht nach Leipzig. Ich habe nun im Leben Einer Woche mit ihr zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache beſtimte weibliche Seele20 giebt, die einen beſſernden Genus, ohne Eine Ecke gewährt und aus der ich nichts wegverlangte: dieſe Emilie hat mich erhoben und ich ſie. Lieber Oertel, dringe ſtärker in ihre Geſchichte und Seele und du findeſt was ich zum erſtenmale fand: ſo viele kühle Beſonnenheit und Un- ſinlichkeit bei einer idealiſchen Phantaſie. Ich mag ſie gar nicht loben:25 ſie beſucht dich in 14 Tagen und ihre geiſtigen Schleier werden, bei ihrer enthuſiaſtiſchen Liebe und Achtung für dich, leicht von ihren Reizen zurükfallen.
Alſo lies mir eine Wohnung aus, Lieber: ſie mus 1 erträgliche Stube für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine Schlafkammer für30 uns beide haben — ferner kan ſie in der Vorſtadt und ohne Ausſicht ſein (für etwa 30 rtl.) — Rauch und Sonnenhize und beſondere Winterkälte darf ſie nicht haben — einige Möbeln (da ich mein Ge- rümpel nicht gern ſo weit transportiere) und ſogar die Gelegenheit, mit oder von den Leuten im Hauſe zu eſſen, wären mir als ein Surrogat35 meiner eingebüſten Häuslichkeit erwünſcht. Wilſt du nicht ſuchen ſo laſſ’ es Beigang thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende Ent-
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676. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
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Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wanderſtab aus der
Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder
vielmehr von der Fr. v. Berlepſch, bei der ich wohnte. 5
Du haſt vielleicht ſchon geleſen, daß das Geſchik meine gute Mutter,
deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wolte, mit
einer langſamen ſtumpfen Senſe von meiner Seele und von dieſem
Leben abgeſchnitten. Ach ich würd’ ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die
Arme ſie früher gehabt, ohne das Grab. Nun mehr iſt Hof düſter, eng, 10
und ein drückender umſchlieſſender Schacht für mich: der ganze Frühling
und Sommer war, ſchon ohne die Waſſerſucht meiner Mutter, troz
meiner Entzückung im Titan, eine ſchwüle Steppe für mich.
Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., ſchon weil mein
Bruder eine Univerſität beziehen mus und weil Erfurt nichts hat 15
als Einen <Dalberg>. Ich achte die Uneigennüzigkeit deines Vor-
ſchlags, aber ich kan es doch nicht ganz abſcheulich finden, von dir und
deinem Glük nicht weiter entfernt zu ſein als 1 Meile. Auch die Ber-
lepsch zieht nach Leipzig. Ich habe nun im Leben Einer Woche mit ihr
zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache beſtimte weibliche Seele 20
giebt, die einen beſſernden Genus, ohne Eine Ecke gewährt und aus der
ich nichts wegverlangte: dieſe Emilie hat mich erhoben und ich ſie.
Lieber Oertel, dringe ſtärker in ihre Geſchichte und Seele und du findeſt
was ich zum erſtenmale fand: ſo viele kühle Beſonnenheit und Un-
ſinlichkeit bei einer idealiſchen Phantaſie. Ich mag ſie gar nicht loben: 25
ſie beſucht dich in 14 Tagen und ihre geiſtigen Schleier werden, bei
ihrer enthuſiaſtiſchen Liebe und Achtung für dich, leicht von ihren
Reizen zurükfallen.
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Alſo lies mir eine Wohnung aus, Lieber: ſie mus 1 erträgliche Stube
für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine Schlafkammer für 30
uns beide haben — ferner kan ſie in der Vorſtadt und ohne Ausſicht
ſein (für etwa 30 rtl.) — Rauch und Sonnenhize und beſondere
Winterkälte darf ſie nicht haben — einige Möbeln (da ich mein Ge-
rümpel nicht gern ſo weit transportiere) und ſogar die Gelegenheit, mit
oder von den Leuten im Hauſe zu eſſen, wären mir als ein Surrogat 35
meiner eingebüſten Häuslichkeit erwünſcht. Wilſt du nicht ſuchen ſo
laſſ’ es Beigang thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende Ent-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/377>, abgerufen am 30.07.2024.
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