Einziger und Erster! Als Raphael seinen Johannes erschaffen hatte, kont' er mit so vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes) sagen: ich bin kein Maler. Aber wer sagt dan: ich bin einer? --5
Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um- fassenden latitudinarischen Sinne lesen, womit Sie darstellen: dan sind -- wenigstens auf dem Drukpapier -- die Religionskriege vorüber. Aber da Sie wahrhaft poetisch und dramatisch in Ihre Denkweise jede fremde, sowohl der Völker als Individuen, auffassen und schonend ein-10 weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: so findet jeder in Ihrem weiten System leichter seines als Ihres.*) Daher ist das nicht immer blos ad hominem geschrieben, was so scheint: sondern der Vorhang des Parrhasius ist oft selber ein Gemälde; wie Ihre philosophischen und ästhetischen Untersuchungen mir beweisen, in15 denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine, je länger Sie ein Objekt beschauen, desto mehr Stralen aus dem Uni- versum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet sich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand ist verständlicher als der Einseitige und dem Kurzsichtigen glaubt man am ersten, weil seine20 Gegenstände vor uns liegen.
[358]Wie alle Ihre dichterischen Übersezungen nur Metempsychosen Ihres Geistes sind, so assimilieren Sie jede fremde Meinung, die Sie annehmen, zu Ihrer. -- Ihr Johannes, der eine gelehrtere Kritik voraussezt als der Vorgänger, ist der mehr rein-menschliche vom25 nazionellen Manierierten gesäuberte Abris des Christenthums. Er stillet wie eine Ewigkeit sanft das Herz, nicht weil er Fragen über die Religion -- die schon der Geist der Zeit entschieden hat -- sondern weil er schwere Fragen über die Geschichte der Menschheit auflöset. Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rousseau'n der Glaube30 und der Unglaube ans Evangelium gleich schwer. Frappant wahr ist der lezte Period p. 58.; -- erquickend wahr p. 276--300 -- p. 210 in der Note ist Ihre Meinung über die Aufer-- --wachung Christi eben so klar als heterodox, die sogar der Orthodoxe annehmen könte,
*) Daher erhielten gerade Leibniz und Lessing, weil sie jeder menschlichen An-35 sicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.
672. An Herder.
Hof. d. 31 Jul. 97.
Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen Johannes erſchaffen hatte, kont’ er mit ſo vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes) ſagen: ich bin kein Maler. Aber wer ſagt dan: ich bin einer? —5
Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um- faſſenden latitudinariſchen Sinne leſen, womit Sie darſtellen: dan ſind — wenigſtens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber. Aber da Sie wahrhaft poetiſch und dramatiſch in Ihre Denkweiſe jede fremde, ſowohl der Völker als Individuen, auffaſſen und ſchonend ein-10 weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: ſo findet jeder in Ihrem weiten Syſtem leichter ſeines als Ihres.*) Daher iſt das nicht immer blos ad hominem geſchrieben, was ſo ſcheint: ſondern der Vorhang des Parrhaſius iſt oft ſelber ein Gemälde; wie Ihre philoſophiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen mir beweiſen, in15 denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine, je länger Sie ein Objekt beſchauen, deſto mehr Stralen aus dem Uni- verſum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet ſich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand iſt verſtändlicher als der Einſeitige und dem Kurzſichtigen glaubt man am erſten, weil ſeine20 Gegenſtände vor uns liegen.
[358]Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen Ihres Geiſtes ſind, ſo aſſimilieren Sie jede fremde Meinung, die Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere Kritik vorausſezt als der Vorgänger, iſt der mehr rein-menſchliche vom25 nazionellen Manierierten geſäuberte Abris des Chriſtenthums. Er ſtillet wie eine Ewigkeit ſanft das Herz, nicht weil er Fragen über die Religion — die ſchon der Geiſt der Zeit entſchieden hat — ſondern weil er ſchwere Fragen über die Geſchichte der Menſchheit auflöſet. Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rouſſeau’n der Glaube30 und der Unglaube ans Evangelium gleich ſchwer. Frappant wahr iſt der lezte Period p. 58.; — erquickend wahr p. 276—300 — p. 210 in der Note iſt Ihre Meinung über die Aufer— —wachung Chriſti eben ſo klar als heterodox, die ſogar der Orthodoxe annehmen könte,
*) Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An-35 ſicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.
<TEI><text><body><pbfacs="#f0373"n="356"/><divtype="letter"n="1"><head>672. An <hirendition="#g">Herder.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#right"><hirendition="#aq">Hof.</hi> d. 31 Jul. 97.</hi></dateline><lb/><p>Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen <hirendition="#g">Johannes</hi> erſchaffen<lb/>
hatte, kont’ er mit ſo vielem Rechte wie Sie <hirendition="#aq">(p. VIII</hi> im <hirendition="#g">Johannes)</hi><lb/>ſagen: ich bin kein Maler. Aber wer ſagt dan: ich bin einer? —<lbn="5"/></p><p>Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um-<lb/>
faſſenden latitudinariſchen Sinne leſen, womit Sie darſtellen: dan<lb/>ſind — wenigſtens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber.<lb/>
Aber da Sie wahrhaft poetiſch und dramatiſch in Ihre Denkweiſe jede<lb/>
fremde, ſowohl der Völker als Individuen, auffaſſen und ſchonend ein-<lbn="10"/>
weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: ſo findet jeder<lb/>
in Ihrem weiten Syſtem leichter ſeines als Ihres.<noteplace="foot"n="*)">Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An-<lbn="35"/>ſicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.</note> Daher iſt das<lb/>
nicht immer blos <hirendition="#aq">ad hominem</hi> geſchrieben, was ſo ſcheint: ſondern<lb/>
der <hirendition="#g">Vorhang</hi> des Parrhaſius iſt oft ſelber ein <hirendition="#g">Gemälde;</hi> wie Ihre<lb/>
philoſophiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen mir beweiſen, in<lbn="15"/>
denen allemal mit der <hirendition="#g">Tiefe</hi> zugleich die <hirendition="#g">Weite</hi> zunimt. Ich meine,<lb/>
je länger Sie ein Objekt beſchauen, deſto mehr Stralen aus dem Uni-<lb/>
verſum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet<lb/>ſich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand iſt verſtändlicher als der<lb/>
Einſeitige und dem Kurzſichtigen glaubt man am erſten, weil ſeine<lbn="20"/>
Gegenſtände vor uns liegen.</p><lb/><p><noteplace="left"><reftarget="1922_Bd2_358">[358]</ref></note>Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen<lb/><hirendition="#g">Ihres</hi> Geiſtes ſind, ſo aſſimilieren Sie jede fremde Meinung, die<lb/>
Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere<lb/>
Kritik vorausſezt als der Vorgänger, iſt der mehr rein-menſchliche vom<lbn="25"/>
nazionellen Manierierten geſäuberte Abris des Chriſtenthums. Er<lb/>ſtillet wie eine Ewigkeit ſanft das Herz, nicht weil er Fragen über die<lb/>
Religion — die ſchon der Geiſt der Zeit entſchieden hat —ſondern<lb/>
weil er ſchwere Fragen über die Geſchichte der Menſchheit auflöſet.<lb/>
Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rouſſeau’n der Glaube<lbn="30"/>
und der Unglaube ans Evangelium gleich ſchwer. Frappant wahr iſt<lb/>
der lezte Period <hirendition="#aq">p.</hi> 58.; — erquickend wahr <hirendition="#aq">p. 276—300 — p.</hi> 210 in<lb/>
der Note iſt Ihre Meinung über die Aufer——wachung Chriſti<lb/>
eben ſo klar als heterodox, die ſogar der Orthodoxe annehmen könte,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[356/0373]
672. An Herder.
Hof. d. 31 Jul. 97.
Einziger und Erſter! Als Raphael ſeinen Johannes erſchaffen
hatte, kont’ er mit ſo vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes)
ſagen: ich bin kein Maler. Aber wer ſagt dan: ich bin einer? — 5
Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem um-
faſſenden latitudinariſchen Sinne leſen, womit Sie darſtellen: dan
ſind — wenigſtens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber.
Aber da Sie wahrhaft poetiſch und dramatiſch in Ihre Denkweiſe jede
fremde, ſowohl der Völker als Individuen, auffaſſen und ſchonend ein- 10
weben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: ſo findet jeder
in Ihrem weiten Syſtem leichter ſeines als Ihres. *) Daher iſt das
nicht immer blos ad hominem geſchrieben, was ſo ſcheint: ſondern
der Vorhang des Parrhaſius iſt oft ſelber ein Gemälde; wie Ihre
philoſophiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen mir beweiſen, in 15
denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine,
je länger Sie ein Objekt beſchauen, deſto mehr Stralen aus dem Uni-
verſum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet
ſich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand iſt verſtändlicher als der
Einſeitige und dem Kurzſichtigen glaubt man am erſten, weil ſeine 20
Gegenſtände vor uns liegen.
Wie alle Ihre dichteriſchen Überſezungen nur Metempſychoſen
Ihres Geiſtes ſind, ſo aſſimilieren Sie jede fremde Meinung, die
Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere
Kritik vorausſezt als der Vorgänger, iſt der mehr rein-menſchliche vom 25
nazionellen Manierierten geſäuberte Abris des Chriſtenthums. Er
ſtillet wie eine Ewigkeit ſanft das Herz, nicht weil er Fragen über die
Religion — die ſchon der Geiſt der Zeit entſchieden hat — ſondern
weil er ſchwere Fragen über die Geſchichte der Menſchheit auflöſet.
Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rouſſeau’n der Glaube 30
und der Unglaube ans Evangelium gleich ſchwer. Frappant wahr iſt
der lezte Period p. 58.; — erquickend wahr p. 276—300 — p. 210 in
der Note iſt Ihre Meinung über die Aufer— —wachung Chriſti
eben ſo klar als heterodox, die ſogar der Orthodoxe annehmen könte,
[358]
*) Daher erhielten gerade Leibniz und Leſſing, weil ſie jeder menſchlichen An- 35
ſicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/373>, abgerufen am 30.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.