Ich lege hier nicht, wie sonst, deine Blätgen vor mich zur Antwort, blos weil sie in meine heute zu oft durchdrungne Seele zu tief dringen.5 Ich habe vor einigen Stunden dem mit Schnee verhülten Staub, den[310] du durch schöpferischen Athem wieder zu einem schwebenden Gebilde erwärmtest und erhobest, zu viel gegeben.
Ich habe dir dreierlei zu sagen.
1. Diese Nummer am wenigsten, nämlich meine ästhetische Achtung10 für dein Blätter-Kleeblat. Es ist gewis nicht die blosse Neuheit sondern der dauernde Fortgang der Grund, daß mir unter allen deinen Sachen keine mehr gefallen als die -- allerlezten. Ach du hast besonders vom guten Bergamo noch einmal das Leichentuch weggezogen und auf seine verfalne Gestalt die Thräne eines ganz Fremden zu fallen gezwungen.15 Ach es ist ausserordentlich schön.
2) Aber ich mus jezt schreiben als schrieb' ich aus Weimar. -- Ich kan (oder konte) von jeher vieles wagen; über mich fliegen (flogen) Wunden und Freuden leichter weg. Aber du bist zu diesem Leicht- und Flugsin nicht organisiert. Und darum wird das in dir, was ich so ver-20 ehre, am Ende ein Schmerz in mir, daß du aus dem Grabe eine Alpe machst, die ihren Schatten zu weit wirft. Sobald man das erlaubt, -- und sei man noch so gleichgültig -- so erstarret man im giftigen Nacht- schatten. Ich mein' es psychologisch. Ich seh' es an dem Liebessehnen der Mädgen, und an dem Heimweh der Schweizer, daß gewisse auf-25 lösende süsse sehnsüchtige Gefühle am Ende eine verkleidete Aqua tof- fana für die Nerven sind. O mein Guter, schone dich anders und mehr!
Schon darum solte man sich nicht bis aufs Innerste abschäälen, weil über jeden von uns der vielschneidige Hammer des Schiksals aufge- hoben schwebt, der am Ende doch auf die Brust niederfället.30
3. Und weiter hab ich dir nichts zu sagen als meinen herzlichsten Dank für deine unersezliche Gabe und meine heutige Freude, die beinahe lauter Unterbrechungen -- kolorierten -- und meine lezte, die nichts unterbricht, daß ich bald nach diesem Blätgen zu meinem guten Christian komme.35
Richter
561. An Chriſtian Otto.
Eilig wegen der Menge der Briefe
[Hof] d. 21 März 97.
Lieber Ewiger,
Ich lege hier nicht, wie ſonſt, deine Blätgen vor mich zur Antwort, blos weil ſie in meine heute zu oft durchdrungne Seele zu tief dringen.5 Ich habe vor einigen Stunden dem mit Schnee verhülten Staub, den[310] du durch ſchöpferiſchen Athem wieder zu einem ſchwebenden Gebilde erwärmteſt und erhobeſt, zu viel gegeben.
Ich habe dir dreierlei zu ſagen.
1. Dieſe Nummer am wenigſten, nämlich meine äſthetiſche Achtung10 für dein Blätter-Kleeblat. Es iſt gewis nicht die bloſſe Neuheit ſondern der dauernde Fortgang der Grund, daß mir unter allen deinen Sachen keine mehr gefallen als die — allerlezten. Ach du haſt beſonders vom guten Bergamo noch einmal das Leichentuch weggezogen und auf ſeine verfalne Geſtalt die Thräne eines ganz Fremden zu fallen gezwungen.15 Ach es iſt auſſerordentlich ſchön.
2) Aber ich mus jezt ſchreiben als ſchrieb’ ich aus Weimar. — Ich kan (oder konte) von jeher vieles wagen; über mich fliegen (flogen) Wunden und Freuden leichter weg. Aber du biſt zu dieſem Leicht- und Flugſin nicht organiſiert. Und darum wird das in dir, was ich ſo ver-20 ehre, am Ende ein Schmerz in mir, daß du aus dem Grabe eine Alpe machſt, die ihren Schatten zu weit wirft. Sobald man das erlaubt, — und ſei man noch ſo gleichgültig — ſo erſtarret man im giftigen Nacht- ſchatten. Ich mein’ es pſychologiſch. Ich ſeh’ es an dem Liebesſehnen der Mädgen, und an dem Heimweh der Schweizer, daß gewiſſe auf-25 löſende ſüſſe ſehnſüchtige Gefühle am Ende eine verkleidete Aqua tof- fana für die Nerven ſind. O mein Guter, ſchone dich anders und mehr!
Schon darum ſolte man ſich nicht bis aufs Innerſte abſchäälen, weil über jeden von uns der vielſchneidige Hammer des Schikſals aufge- hoben ſchwebt, der am Ende doch auf die Bruſt niederfället.30
3. Und weiter hab ich dir nichts zu ſagen als meinen herzlichſten Dank für deine unerſezliche Gabe und meine heutige Freude, die beinahe lauter Unterbrechungen — kolorierten — und meine lezte, die nichts unterbricht, daß ich bald nach dieſem Blätgen zu meinem guten Chriſtian komme.35
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Lieber Ewiger,
Ich lege hier nicht, wie ſonſt, deine Blätgen vor mich zur Antwort,
blos weil ſie in meine heute zu oft durchdrungne Seele zu tief dringen. 5
Ich habe vor einigen Stunden dem mit Schnee verhülten Staub, den
du durch ſchöpferiſchen Athem wieder zu einem ſchwebenden Gebilde
erwärmteſt und erhobeſt, zu viel gegeben.
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Ich habe dir dreierlei zu ſagen.
1. Dieſe Nummer am wenigſten, nämlich meine äſthetiſche Achtung 10
für dein Blätter-Kleeblat. Es iſt gewis nicht die bloſſe Neuheit ſondern
der dauernde Fortgang der Grund, daß mir unter allen deinen Sachen
keine mehr gefallen als die — allerlezten. Ach du haſt beſonders vom
guten Bergamo noch einmal das Leichentuch weggezogen und auf ſeine
verfalne Geſtalt die Thräne eines ganz Fremden zu fallen gezwungen. 15
Ach es iſt auſſerordentlich ſchön.
2) Aber ich mus jezt ſchreiben als ſchrieb’ ich aus Weimar. — Ich
kan (oder konte) von jeher vieles wagen; über mich fliegen (flogen)
Wunden und Freuden leichter weg. Aber du biſt zu dieſem Leicht- und
Flugſin nicht organiſiert. Und darum wird das in dir, was ich ſo ver- 20
ehre, am Ende ein Schmerz in mir, daß du aus dem Grabe eine Alpe
machſt, die ihren Schatten zu weit wirft. Sobald man das erlaubt, —
und ſei man noch ſo gleichgültig — ſo erſtarret man im giftigen Nacht-
ſchatten. Ich mein’ es pſychologiſch. Ich ſeh’ es an dem Liebesſehnen
der Mädgen, und an dem Heimweh der Schweizer, daß gewiſſe auf- 25
löſende ſüſſe ſehnſüchtige Gefühle am Ende eine verkleidete Aqua tof-
fana für die Nerven ſind. O mein Guter, ſchone dich anders und mehr!
Schon darum ſolte man ſich nicht bis aufs Innerſte abſchäälen, weil
über jeden von uns der vielſchneidige Hammer des Schikſals aufge-
hoben ſchwebt, der am Ende doch auf die Bruſt niederfället. 30
3. Und weiter hab ich dir nichts zu ſagen als meinen herzlichſten Dank
für deine unerſezliche Gabe und meine heutige Freude, die beinahe
lauter Unterbrechungen — kolorierten — und meine lezte, die nichts
unterbricht, daß ich bald nach dieſem Blätgen zu meinem guten Chriſtian
komme. 35
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/324>, abgerufen am 30.07.2024.
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