Ich erwarte Sie bang und froh: ich müste Sie ohnehin vorher sprechen, eh' ich Ihren H. Vater spreche. Bleiben Sie leidend; das ist das beste Mittel, daß Sie nicht ganz leiden. Adieu Geplagt und Geliebte!
Richter
(*)515. An Charlotte von Kalb in Weimar.5
[Kopie, z. T. Konzept][Hof, Ende 1796 -- 29. Jan. 1797]
[Unvergesliche! So sonderbar sind wir alle! Obgleich dieses Blat erst weit im neuen Jahre in Ihre Hände gelangt: so ist mir doch in dieser Minute -- blos weil ichs denke und schreibe --] als ständ' ich hinter der Gruft des fallenden Jahrs und vor der Wiege des lächelnden10 [neuen] neben Ihnen und nähme Ihre Hand und sagte: noch kein Jahr gab mir eine Seele wie Ihre, [noch keines eine so geflügelte und so gute und so aufrichtige. O sei du so glüklich im künftigen, wie ich im vorigen war -- und bleibe bei mir. --
Was haben Sie mir alles vertraut!] -- Ihr Vermählen mit Ihrem15 Gemahl, das engere Umarmen d[es] nächsten Geliebten. Ein Zeichen des engsten Herzensbundes ist die Enthüllung der häuslichen und [293]bürgerlichen Verhältnisse, die der egoistische Weltton verbeut -- litterarische Phasen und Kulminazionen. -- Wenn ich mit den hölzernen Hebeln der Klaviertasten die Frühlingswelt wieder vor meine Seele20 hebe -- diese papiernen Kinder und Enkel dithyrambischer Stunden -- Wenn der Frühling seinen blauen Himmel und seine Nektarien um uns öfnet.
[Hätten Sie nur eine Nebensonne, so müste mir diese ihre Stralen geben. -- Zürnen Sie nicht meinem langen Schweigen -- ich bin der25 Krüdner zwei Antworten schuldig. -- Sagen Sie mir von allen etwas, die ich bei Ihnen in Weimar sah. --
Göthe sol in Leipzig von mir so mild und unpartheiisch gesprochen haben, wie es nur Charlotte thäte.
Vieles, was ich erfahren, ist nicht werth geschrieben zu werden, doch30 ich sage es ohne Wahl der Sache, noch der Einkleidung. --
Die Hofnung auf Ihre Briefe verzögert die meinigen. -- Wenn ich einmal bei Ihnen bin, tausendfach verkantes Herz, werde ich nicht begreifen, warum ich Ihnen so selten schrieb -- aber in meinen flüchtigen Briefen find' ich weder den Ausdruk, noch den Genus der35 Liebe für Sie, aber in den Ihrigen finde ich beides. -- Ach Sie wissen
Ich erwarte Sie bang und froh: ich müſte Sie ohnehin vorher ſprechen, eh’ ich Ihren H. Vater ſpreche. Bleiben Sie leidend; das iſt das beſte Mittel, daß Sie nicht ganz leiden. Adieu Geplagt und Geliebte!
Richter
(*)515. An Charlotte von Kalb in Weimar.5
[Kopie, z. T. Konzept][Hof, Ende 1796 — 29. Jan. 1797]
[Unvergesliche! So ſonderbar ſind wir alle! Obgleich dieſes Blat erſt weit im neuen Jahre in Ihre Hände gelangt: ſo iſt mir doch in dieſer Minute — blos weil ichs denke und ſchreibe —] als ſtänd’ ich hinter der Gruft des fallenden Jahrs und vor der Wiege des lächelnden10 [neuen] neben Ihnen und nähme Ihre Hand und ſagte: noch kein Jahr gab mir eine Seele wie Ihre, [noch keines eine ſo geflügelte und ſo gute und ſo aufrichtige. O ſei du ſo glüklich im künftigen, wie ich im vorigen war — und bleibe bei mir. —
Was haben Sie mir alles vertraut!] — Ihr Vermählen mit Ihrem15 Gemahl, das engere Umarmen d[es] nächſten Geliebten. Ein Zeichen des engſten Herzensbundes iſt die Enthüllung der häuslichen und [293]bürgerlichen Verhältniſſe, die der egoiſtiſche Weltton verbeut — litterariſche Phaſen und Kulminazionen. — Wenn ich mit den hölzernen Hebeln der Klaviertaſten die Frühlingswelt wieder vor meine Seele20 hebe — dieſe papiernen Kinder und Enkel dithyrambiſcher Stunden — Wenn der Frühling ſeinen blauen Himmel und ſeine Nektarien um uns öfnet.
[Hätten Sie nur eine Nebenſonne, ſo müſte mir dieſe ihre Stralen geben. — Zürnen Sie nicht meinem langen Schweigen — ich bin der25 Krüdner zwei Antworten ſchuldig. — Sagen Sie mir von allen etwas, die ich bei Ihnen in Weimar ſah. —
Göthe ſol in Leipzig von mir ſo mild und unpartheiiſch geſprochen haben, wie es nur Charlotte thäte.
Vieles, was ich erfahren, iſt nicht werth geſchrieben zu werden, doch30 ich ſage es ohne Wahl der Sache, noch der Einkleidung. —
Die Hofnung auf Ihre Briefe verzögert die meinigen. — Wenn ich einmal bei Ihnen bin, tauſendfach verkantes Herz, werde ich nicht begreifen, warum ich Ihnen ſo ſelten ſchrieb — aber in meinen flüchtigen Briefen find’ ich weder den Ausdruk, noch den Genus der35 Liebe für Sie, aber in den Ihrigen finde ich beides. — Ach Sie wiſſen
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Ich erwarte Sie bang und froh: ich müſte Sie ohnehin vorher
ſprechen, eh’ ich Ihren H. Vater ſpreche. Bleiben Sie leidend; das iſt
das beſte Mittel, daß Sie nicht ganz leiden. Adieu Geplagt und Geliebte!
Richter
(*)515. An Charlotte von Kalb in Weimar. 5
[Hof, Ende 1796 — 29. Jan. 1797]
[Unvergesliche! So ſonderbar ſind wir alle! Obgleich dieſes Blat
erſt weit im neuen Jahre in Ihre Hände gelangt: ſo iſt mir doch in
dieſer Minute — blos weil ichs denke und ſchreibe —] als ſtänd’ ich
hinter der Gruft des fallenden Jahrs und vor der Wiege des lächelnden 10
[neuen] neben Ihnen und nähme Ihre Hand und ſagte: noch kein
Jahr gab mir eine Seele wie Ihre, [noch keines eine ſo geflügelte und
ſo gute und ſo aufrichtige. O ſei du ſo glüklich im künftigen, wie ich im
vorigen war — und bleibe bei mir. —
Was haben Sie mir alles vertraut!] — Ihr Vermählen mit Ihrem 15
Gemahl, das engere Umarmen d[es] nächſten Geliebten. Ein Zeichen
des engſten Herzensbundes iſt die Enthüllung der häuslichen und
bürgerlichen Verhältniſſe, die der egoiſtiſche Weltton verbeut —
litterariſche Phaſen und Kulminazionen. — Wenn ich mit den hölzernen
Hebeln der Klaviertaſten die Frühlingswelt wieder vor meine Seele 20
hebe — dieſe papiernen Kinder und Enkel dithyrambiſcher Stunden —
Wenn der Frühling ſeinen blauen Himmel und ſeine Nektarien um uns
öfnet.
[293]
[Hätten Sie nur eine Nebenſonne, ſo müſte mir dieſe ihre Stralen
geben. — Zürnen Sie nicht meinem langen Schweigen — ich bin der 25
Krüdner zwei Antworten ſchuldig. — Sagen Sie mir von allen etwas,
die ich bei Ihnen in Weimar ſah. —
Göthe ſol in Leipzig von mir ſo mild und unpartheiiſch geſprochen
haben, wie es nur Charlotte thäte.
Vieles, was ich erfahren, iſt nicht werth geſchrieben zu werden, doch 30
ich ſage es ohne Wahl der Sache, noch der Einkleidung. —
Die Hofnung auf Ihre Briefe verzögert die meinigen. — Wenn ich
einmal bei Ihnen bin, tauſendfach verkantes Herz, werde ich nicht
begreifen, warum ich Ihnen ſo ſelten ſchrieb — aber in meinen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/307>, abgerufen am 30.07.2024.
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