Die Stunde, worin ich Sie hörte, fliesset wie ein Abendroth immer weiter unter den Horizont, Ihr Brief mus ihr wieder Farbe geben. Sie kamen wie ein Traum, Sie flohen wie ein Traum und ich lebe5 noch in einem Traum. Saturnin [sagt,] die Engel hätten Menschen geschaffen wie Gott, hätten sie aber nicht in die Höhe richten können, bis Gott durch einen Funken sie beseelte und aufstelte. Solche liegende Menschen sind die meisten -- Gott schlug in wenige einen Funken, der sie aufrichtet. In Ihrer Seele glüht dieser Sonnenfunke und Ihr10 innerer Mensch steht unter den liegenden kalten Gestalten aufrecht und sein weiter Blik geniesset zugleich den Himmel und die Erde. Grosse Tugenden sind in irdischen Augen Fehler, wie die Fluren des Mondes[234] sich uns in der Ferne als Flecken darstellen. -- Der Glaube an Ver- nichtung -- diese Seelen Guillottine und Füssilade. Ich wolte, heute15 wäre der 1 Januar, damit mein Herz sich in gerechtf[ertigte] Wünsche für Ihres auflös[ete]. Aber jeder Tag ist für mich ein erster Januar und alles was in die laue Nacht dieses flatternden Lebens Mondlicht und Violenblüten wirft und alles was ins einfärbige Grün auf dem stehenden Wasser unsers Daseins einzelne Blumen flicht etc.20
385. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
Eilig.
Hof. d. 22 Aug. 96.
Kaum ein Billet, nur ein Avertissement, ein Postskript zum Post- skript sol dieses Blätgen sein, das Sie bittet, diese Einlage zu in- sinuieren. D. 17ten war die Frau des russischen Gesandten in Däne-25 mark bei mir, eben diese Krüdner, die vielleicht wieder von Weimar in Leipzig ist. Sie ist eine Seele, wie ich sie kaum noch im Pantheon der Ideale gesehen: die notae caracteristicae an ihr sind ewiger Friede und Freude in sich -- ob sie gleich alles genossen -- eine weite Menschen- liebe, die nichts mit sentimentalischem erotischem Eigennuz gemein30 hat -- und eine gute Meinung, die sie von andern, Andere von ihr haben. Sie müssen dieses warme Herz, dem meine Bücher sein Italien und sein Eden fast wiederholet haben, kennen lernen: äusserlich ist sie unbedeutend, das klare reine warme Auge ausgenommen, das sich in Stunden bei mir so oft in Thränen verklärte, denen meine35 folgten. Sobald sie in Leipzig ist, komm ich nach Leipzig: ich habe
384. An Julie von Krüdener in Leipzig.
[Kopie][Hof, 22. Aug. 1796]
Die Stunde, worin ich Sie hörte, flieſſet wie ein Abendroth immer weiter unter den Horizont, Ihr Brief mus ihr wieder Farbe geben. Sie kamen wie ein Traum, Sie flohen wie ein Traum und ich lebe5 noch in einem Traum. Saturnin [ſagt,] die Engel hätten Menſchen geſchaffen wie Gott, hätten ſie aber nicht in die Höhe richten können, bis Gott durch einen Funken ſie beſeelte und aufſtelte. Solche liegende Menſchen ſind die meiſten — Gott ſchlug in wenige einen Funken, der ſie aufrichtet. In Ihrer Seele glüht dieſer Sonnenfunke und Ihr10 innerer Menſch ſteht unter den liegenden kalten Geſtalten aufrecht und ſein weiter Blik genieſſet zugleich den Himmel und die Erde. Groſſe Tugenden ſind in irdiſchen Augen Fehler, wie die Fluren des Mondes[234] ſich uns in der Ferne als Flecken darſtellen. — Der Glaube an Ver- nichtung — dieſe Seelen Guillottine und Füſſilade. Ich wolte, heute15 wäre der 1 Januar, damit mein Herz ſich in gerechtf[ertigte] Wünſche für Ihres auflöſ[ete]. Aber jeder Tag iſt für mich ein erſter Januar und alles was in die laue Nacht dieſes flatternden Lebens Mondlicht und Violenblüten wirft und alles was ins einfärbige Grün auf dem ſtehenden Waſſer unſers Daſeins einzelne Blumen flicht ꝛc.20
385. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
Eilig.
Hof. d. 22 Aug. 96.
Kaum ein Billet, nur ein Avertiſſement, ein Poſtſkript zum Poſt- ſkript ſol dieſes Blätgen ſein, das Sie bittet, dieſe Einlage zu in- ſinuieren. D. 17ten war die Frau des ruſſiſchen Geſandten in Däne-25 mark bei mir, eben dieſe Krüdner, die vielleicht wieder von Weimar in Leipzig iſt. Sie iſt eine Seele, wie ich ſie kaum noch im Pantheon der Ideale geſehen: die notae caracteristicae an ihr ſind ewiger Friede und Freude in ſich — ob ſie gleich alles genoſſen — eine weite Menſchen- liebe, die nichts mit ſentimentaliſchem erotiſchem Eigennuz gemein30 hat — und eine gute Meinung, die ſie von andern, Andere von ihr haben. Sie müſſen dieſes warme Herz, dem meine Bücher ſein Italien und ſein Eden faſt wiederholet haben, kennen lernen: äuſſerlich iſt ſie unbedeutend, das klare reine warme Auge ausgenommen, das ſich in Stunden bei mir ſo oft in Thränen verklärte, denen meine35 folgten. Sobald ſie in Leipzig iſt, komm ich nach Leipzig: ich habe
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384. An Julie von Krüdener in Leipzig.
[Hof, 22. Aug. 1796]
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Sie kamen wie ein Traum, Sie flohen wie ein Traum und ich lebe 5
noch in einem Traum. Saturnin [ſagt,] die Engel hätten Menſchen
geſchaffen wie Gott, hätten ſie aber nicht in die Höhe richten können,
bis Gott durch einen Funken ſie beſeelte und aufſtelte. Solche liegende
Menſchen ſind die meiſten — Gott ſchlug in wenige einen Funken, der
ſie aufrichtet. In Ihrer Seele glüht dieſer Sonnenfunke und Ihr 10
innerer Menſch ſteht unter den liegenden kalten Geſtalten aufrecht und
ſein weiter Blik genieſſet zugleich den Himmel und die Erde. Groſſe
Tugenden ſind in irdiſchen Augen Fehler, wie die Fluren des Mondes
ſich uns in der Ferne als Flecken darſtellen. — Der Glaube an Ver-
nichtung — dieſe Seelen Guillottine und Füſſilade. Ich wolte, heute 15
wäre der 1 Januar, damit mein Herz ſich in gerechtf[ertigte] Wünſche
für Ihres auflöſ[ete]. Aber jeder Tag iſt für mich ein erſter Januar
und alles was in die laue Nacht dieſes flatternden Lebens Mondlicht
und Violenblüten wirft und alles was ins einfärbige Grün auf dem
ſtehenden Waſſer unſers Daſeins einzelne Blumen flicht ꝛc. 20
[234]
385. An Friedrich von Oertel in Leipzig.
Eilig.Hof. d. 22 Aug. 96.
Kaum ein Billet, nur ein Avertiſſement, ein Poſtſkript zum Poſt-
ſkript ſol dieſes Blätgen ſein, das Sie bittet, dieſe Einlage zu in-
ſinuieren. D. 17ten war die Frau des ruſſiſchen Geſandten in Däne- 25
mark bei mir, eben dieſe Krüdner, die vielleicht wieder von Weimar in
Leipzig iſt. Sie iſt eine Seele, wie ich ſie kaum noch im Pantheon der
Ideale geſehen: die notae caracteristicae an ihr ſind ewiger Friede
und Freude in ſich — ob ſie gleich alles genoſſen — eine weite Menſchen-
liebe, die nichts mit ſentimentaliſchem erotiſchem Eigennuz gemein 30
hat — und eine gute Meinung, die ſie von andern, Andere von ihr
haben. Sie müſſen dieſes warme Herz, dem meine Bücher ſein
Italien und ſein Eden faſt wiederholet haben, kennen lernen: äuſſerlich
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folgten. Sobald ſie in Leipzig iſt, komm ich nach Leipzig: ich habe
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/249>, abgerufen am 16.02.2025.
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