lies bisher eine Decke auf mein[em] Individ[uum], die von selbst zerreiss[et] und so durchsichtig wird wie Milchflor. Sie können, wenn ich endlich nach dem Solitair auch die Fassung vor die Augen be- kommen werde, blos sich gleich bleibt [!]. Mein Geist umschlang ihn nur mit 1 Arm, dich mit 2. Seine 3 [?] besten genialischen [?] Bücher5 gehören so wenig unter seine Tugenden als wenn er Kinder von tugendhafter Anlage zeugt.
*328. An Charlotte von Kalb in Weimar.
[Konzept]Hof d. 5 Jun. 1796 [Sonntag].
In acht Tagen, gnädige Frau, steh' ich neben Ihrem Stuhl; das10 Schiksal zeigt spielend mir Weimar bald nah, bald fern, wie den Polarbewohnern die Sonne, die jeden Tag nur die Morgenröthe um 12 Uhr schikt, aber nicht kömt, bis sie am Ende über dem weiten Pol- Schnee aufglänzt. Ich werde immer sehnsüchtiger, je länger es dauert.
[Ich lüge immer, wenn ich prophezeie, nicht mit dem Herzen15 sondern mit dem Kopfe.]
329. An Christian Otto.
[Hof, 5. Juni 1796. Sonntag]
Wie dein Zettel, so freuet mich alles. Natürlich wust' ich alles schon vor 1/3 Jahre voraus, sogar das Geschlecht meiner Pathin. Es war20 abgeredet, daß die Taufe -- wie in Bayreuth gewöhnlich ist -- 14 Tage meinetwegen verschoben würde, wär' ich auswärts. Jezt kan ich doch dort nisten so lang ich wil. Eine Pathin ist mir 100 000 etc. mal lieber als ein Path, diese zumal. -- Drunten beim Herold hab' ich das Essen 2mal abgeschlagen und heute doch endlich angenommen,25 da es im Gartenhaus geschieht. Nach Leipzig und Weimar ist alles berichtet. Es wird gewis schönes Wetter. Lese mein Buch wie Akten so schnel.
330. An Christian Otto.[202]
Wenn du wilt [!], gehen wir übermorgen so frühe als wir können,30 d. h. als du meine Fracht eingewindelt hast. Ich danke dir sehr und herzlich für deine eben so schön gedachte als gesagte Sentenz, der ich das privilegium de non appellando gern ertheile. Welcher Kritiker hat mir denn nur das tel genüzt, was ich dir verdanke? -- Leider ist
lies bisher eine Decke auf mein[em] Individ[uum], die von ſelbſt zerreiſſ[et] und ſo durchſichtig wird wie Milchflor. Sie können, wenn ich endlich nach dem Solitair auch die Faſſung vor die Augen be- kommen werde, blos ſich gleich bleibt [!]. Mein Geiſt umſchlang ihn nur mit 1 Arm, dich mit 2. Seine 3 [?] beſten genialiſchen [?] Bücher5 gehören ſo wenig unter ſeine Tugenden als wenn er Kinder von tugendhafter Anlage zeugt.
*328. An Charlotte von Kalb in Weimar.
[Konzept]Hof d. 5 Jun. 1796 [Sonntag].
In acht Tagen, gnädige Frau, ſteh’ ich neben Ihrem Stuhl; das10 Schikſal zeigt ſpielend mir Weimar bald nah, bald fern, wie den Polarbewohnern die Sonne, die jeden Tag nur die Morgenröthe um 12 Uhr ſchikt, aber nicht kömt, bis ſie am Ende über dem weiten Pol- Schnee aufglänzt. Ich werde immer ſehnſüchtiger, je länger es dauert.
[Ich lüge immer, wenn ich prophezeie, nicht mit dem Herzen15 ſondern mit dem Kopfe.]
329. An Chriſtian Otto.
[Hof, 5. Juni 1796. Sonntag]
Wie dein Zettel, ſo freuet mich alles. Natürlich wuſt’ ich alles ſchon vor ⅓ Jahre voraus, ſogar das Geſchlecht meiner Pathin. Es war20 abgeredet, daß die Taufe — wie in Bayreuth gewöhnlich iſt — 14 Tage meinetwegen verſchoben würde, wär’ ich auswärts. Jezt kan ich doch dort niſten ſo lang ich wil. Eine Pathin iſt mir 100 000 ꝛc. mal lieber als ein Path, dieſe zumal. — Drunten beim Herold hab’ ich das Eſſen 2mal abgeſchlagen und heute doch endlich angenommen,25 da es im Gartenhaus geſchieht. Nach Leipzig und Weimar iſt alles berichtet. Es wird gewis ſchönes Wetter. Leſe mein Buch wie Akten ſo ſchnel.
330. An Chriſtian Otto.[202]
Wenn du wilt [!], gehen wir übermorgen ſo frühe als wir können,30 d. h. als du meine Fracht eingewindelt haſt. Ich danke dir ſehr und herzlich für deine eben ſo ſchön gedachte als geſagte Sentenz, der ich das privilegium de non appellando gern ertheile. Welcher Kritiker hat mir denn nur das tel genüzt, was ich dir verdanke? — Leider iſt
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ich endlich nach dem Solitair auch die Faſſung vor die Augen be-
kommen werde, blos ſich gleich bleibt [!]. Mein Geiſt umſchlang ihn
nur mit 1 Arm, dich mit 2. Seine 3 [?] beſten genialiſchen [?] Bücher 5
gehören ſo wenig unter ſeine Tugenden als wenn er Kinder von
tugendhafter Anlage zeugt.
*328. An Charlotte von Kalb in Weimar.
Hof d. 5 Jun. 1796 [Sonntag].
In acht Tagen, gnädige Frau, ſteh’ ich neben Ihrem Stuhl; das 10
Schikſal zeigt ſpielend mir Weimar bald nah, bald fern, wie den
Polarbewohnern die Sonne, die jeden Tag nur die Morgenröthe um
12 Uhr ſchikt, aber nicht kömt, bis ſie am Ende über dem weiten Pol-
Schnee aufglänzt. Ich werde immer ſehnſüchtiger, je länger es dauert.
[Ich lüge immer, wenn ich prophezeie, nicht mit dem Herzen 15
ſondern mit dem Kopfe.]
329. An Chriſtian Otto.
[Hof, 5. Juni 1796. Sonntag]
Wie dein Zettel, ſo freuet mich alles. Natürlich wuſt’ ich alles ſchon
vor ⅓ Jahre voraus, ſogar das Geſchlecht meiner Pathin. Es war 20
abgeredet, daß die Taufe — wie in Bayreuth gewöhnlich iſt —
14 Tage meinetwegen verſchoben würde, wär’ ich auswärts. Jezt kan
ich doch dort niſten ſo lang ich wil. Eine Pathin iſt mir 100 000 ꝛc.
mal lieber als ein Path, dieſe zumal. — Drunten beim Herold hab’
ich das Eſſen 2mal abgeſchlagen und heute doch endlich angenommen, 25
da es im Gartenhaus geſchieht. Nach Leipzig und Weimar iſt alles
berichtet. Es wird gewis ſchönes Wetter. Leſe mein Buch wie Akten
ſo ſchnel.
330. An Chriſtian Otto.
Wenn du wilt [!], gehen wir übermorgen ſo frühe als wir können, 30
d. h. als du meine Fracht eingewindelt haſt. Ich danke dir ſehr und
herzlich für deine eben ſo ſchön gedachte als geſagte Sentenz, der ich
das privilegium de non appellando gern ertheile. Welcher Kritiker
hat mir denn nur das [FORMEL]tel genüzt, was ich dir verdanke? — Leider iſt
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/216>, abgerufen am 16.02.2025.
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