sterbe, der blossen Wunder und Neuigkeiten wegen, die ich zu erleben hoffe. Jezt fühl' ichs und bemerk' es als etwas Sonderbares, daß wir uns wundern, daß wir existieren -- wir fühlen uns zufällig, nicht ewig, wir fassen kein ewiges Ich in der Vergangenheit, kein sterbliches in der Zukunft. Ich höre sanft und glüklich auf und alles, was ich sage, steht5 ja schon zusammengefasset im ersten Wort der folgenden Seite.
d. 4 April.
Geliebter
Wenn auch das Widerspiel von der Menge gälte: so zieh' ich mich doch mit einem jeden Schmerz, den mir das Verhängnis zuwirft,10 trozig und in mich zurük gedrükt in die engste Ecke meines Ichs hinein. [171]Bin ich aber glüklich -- das heist auf der Erde bin ichs halb, 3/4, 4/5 , 5/6 , -- so sehnt und erweitert sich mein Herz nach einem Menschen, an den ich mich mit sanftem Dank an den verdekten Algeber mit süssem Anspannen und Zerrinnen legen darf. Mein Oertel,15 ich bin jezt an Ihrem Herzen. Wie viel 100 mal besser wäre der gute Mensch, wenn [er] der glükliche wäre. Ein zu bitteres Geschik nimt uns zu oft die Nachbarschaft der Engel, unter denen man so leicht selbst einer würde, und den Wiederschein eines dürstenden Ichs.
279. An Christian Otto.20
[Hof] d. 4 Apr. 96.
Ich habe fast alle Schmuz- und Fetflecken, die du wahrgenommen, herausgerieben so weit es ohne Nachtheil ihrer Nachbarschaft ge- schehen konte. Blos Firmians Scheu gegen Weiber kan von mir (nicht als Antikritiker sondern als Gegenstand der Erfahrung) gerettet25 werden. Ich war nämlich in den Jahren, wo ich mich um kein Urth[ei]l und keinen Stand bekümmerte, doch im höchsten Grade furchtsam gegen das andere Geschlecht, gerade nach Verhältnis seines Rangs. Einen zweiten Grund hast [du] schon angegeben. Nimst du noch Nataliens Kentnisse, und Kühnheit gegen unser Geschlecht dazu: so30 gehts schon. Etwas mag auf mich mein künftiger "Titan" wirken, aus dem mir Leibgeber mit Glorie wie ein vom Aufgange vergrösserter Stern herüberleuchtet. -- Und dieses Titans wegen, hab ich jezt kaum das Herz, mich Naturschilderungen zu überlassen: dort drinnen sollen sie alle brennen und funkeln und ich hebe sie auf -- es ist aber35
ſterbe, der bloſſen Wunder und Neuigkeiten wegen, die ich zu erleben hoffe. Jezt fühl’ ichs und bemerk’ es als etwas Sonderbares, daß wir uns wundern, daß wir exiſtieren — wir fühlen uns zufällig, nicht ewig, wir faſſen kein ewiges Ich in der Vergangenheit, kein ſterbliches in der Zukunft. Ich höre ſanft und glüklich auf und alles, was ich ſage, ſteht5 ja ſchon zuſammengefaſſet im erſten Wort der folgenden Seite.
d. 4 April.
Geliebter
Wenn auch das Widerſpiel von der Menge gälte: ſo zieh’ ich mich doch mit einem jeden Schmerz, den mir das Verhängnis zuwirft,10 trozig und in mich zurük gedrükt in die engſte Ecke meines Ichs hinein. [171]Bin ich aber glüklich — das heiſt auf der Erde bin ichs halb, ¾, ⅘, ⅚, — ſo ſehnt und erweitert ſich mein Herz nach einem Menſchen, an den ich mich mit ſanftem Dank an den verdekten Algeber mit ſüſſem Anſpannen und Zerrinnen legen darf. Mein Oertel,15 ich bin jezt an Ihrem Herzen. Wie viel 100 mal beſſer wäre der gute Menſch, wenn [er] der glükliche wäre. Ein zu bitteres Geſchik nimt uns zu oft die Nachbarſchaft der Engel, unter denen man ſo leicht ſelbſt einer würde, und den Wiederſchein eines dürſtenden Ichs.
279. An Chriſtian Otto.20
[Hof] d. 4 Apr. 96.
Ich habe faſt alle Schmuz- und Fetflecken, die du wahrgenommen, herausgerieben ſo weit es ohne Nachtheil ihrer Nachbarſchaft ge- ſchehen konte. Blos Firmians Scheu gegen Weiber kan von mir (nicht als Antikritiker ſondern als Gegenſtand der Erfahrung) gerettet25 werden. Ich war nämlich in den Jahren, wo ich mich um kein Urth[ei]l und keinen Stand bekümmerte, doch im höchſten Grade furchtſam gegen das andere Geſchlecht, gerade nach Verhältnis ſeines Rangs. Einen zweiten Grund haſt [du] ſchon angegeben. Nimſt du noch Nataliens Kentniſſe, und Kühnheit gegen unſer Geſchlecht dazu: ſo30 gehts ſchon. Etwas mag auf mich mein künftiger „Titan“ wirken, aus dem mir Leibgeber mit Glorie wie ein vom Aufgange vergröſſerter Stern herüberleuchtet. — Und dieſes Titans wegen, hab ich jezt kaum das Herz, mich Naturſchilderungen zu überlaſſen: dort drinnen ſollen ſie alle brennen und funkeln und ich hebe ſie auf — es iſt aber35
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ſterbe, der bloſſen Wunder und Neuigkeiten wegen, die ich zu erleben
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wir faſſen kein ewiges Ich in der Vergangenheit, kein ſterbliches in der
Zukunft. Ich höre ſanft und glüklich auf und alles, was ich ſage, ſteht 5
ja ſchon zuſammengefaſſet im erſten Wort der folgenden Seite.
d. 4 April.
Geliebter
Wenn auch das Widerſpiel von der Menge gälte: ſo zieh’ ich mich
doch mit einem jeden Schmerz, den mir das Verhängnis zuwirft, 10
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Algeber mit ſüſſem Anſpannen und Zerrinnen legen darf. Mein Oertel, 15
ich bin jezt an Ihrem Herzen. Wie viel 100 mal beſſer wäre der gute
Menſch, wenn [er] der glükliche wäre. Ein zu bitteres Geſchik nimt
uns zu oft die Nachbarſchaft der Engel, unter denen man ſo leicht ſelbſt
einer würde, und den Wiederſchein eines dürſtenden Ichs.
[171]
279. An Chriſtian Otto. 20
[Hof] d. 4 Apr. 96.
Ich habe faſt alle Schmuz- und Fetflecken, die du wahrgenommen,
herausgerieben ſo weit es ohne Nachtheil ihrer Nachbarſchaft ge-
ſchehen konte. Blos Firmians Scheu gegen Weiber kan von mir
(nicht als Antikritiker ſondern als Gegenſtand der Erfahrung) gerettet 25
werden. Ich war nämlich in den Jahren, wo ich mich um kein Urth[ei]l
und keinen Stand bekümmerte, doch im höchſten Grade furchtſam
gegen das andere Geſchlecht, gerade nach Verhältnis ſeines Rangs.
Einen zweiten Grund haſt [du] ſchon angegeben. Nimſt du noch
Nataliens Kentniſſe, und Kühnheit gegen unſer Geſchlecht dazu: ſo 30
gehts ſchon. Etwas mag auf mich mein künftiger „Titan“ wirken, aus
dem mir Leibgeber mit Glorie wie ein vom Aufgange vergröſſerter
Stern herüberleuchtet. — Und dieſes Titans wegen, hab ich jezt
kaum das Herz, mich Naturſchilderungen zu überlaſſen: dort drinnen
ſollen ſie alle brennen und funkeln und ich hebe ſie auf — es iſt aber 35
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/187>, abgerufen am 28.11.2024.
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