"Welt hinter der Wüste der ersten zeigt. Und so an jedem Ende eines "alten Jahres wollen wir wiederholen: wir bleiben vereinigt." -- D[as] Gemälde für schwächere Augen umfärben -- illuminierte, getuschte Ausgabe.
213. An Amöne Herold.5
Hof d. lezten Herbsttag 1795 [20. Dez. Sonntag].
Ich hoffe, ich habe jezt die Minute, die zwischen Kälte und Wärme, zwischen Empfindlichkeit und Empfindsamkeit so das Mittel hält, daß ich mit Ihnen von Ihnen selber mit der reinen Gleichmüthigkeit vol[136] Wohlwollen sprechen kan als wenn ich in der zweiten Welt drüben einer10 abgeschiednen Seele die Ihrige zu malen hätte. Wär' es möglich, daß jeder von uns zweimal da wäre und im moralischen Sin sich selber sähe: so wäre jeder besser -- wüsten wir gewis, wir haben gewisse Fehler, wir legten sie ab.
Ich betheuere Ihnen, ich denke jezt an den Ewigen und an sein Auge,15 vor dem mein enthültes Herz mit dem enthülten Vorsaz liegt, ohne Einmischung meines Ichs die kleinen Schatten des Ihrigen zu schildern.
Alle kraftvolle Menschen halten das Recht des Stärkern für ein Recht, sie leiden über sich keinen Szepter, weil sie selber einen führen wollen. Daher sind die meisten Genies egoistisch. Ihr Talent, das sie20 erst verdienen müssen, machen sie zu einem Vorwand grösserer Foderung; das Geschenk ist ihnen ein Recht auf Tribut. Die ganze Dankbarkeit, die der geistig Reichere gegen den Schöpfer hat, besteht darin, daß er desto mehr von den ärmer Gelassenen fodert, anstat daß gerade die Menschen vom meisten Werth den andern am meisten --25 schuldig sind und nichts zu fodern, sondern nur mehr zu geben haben. Ihr Egoismus kömt von etwas besserem her als von Ihrer Erziehung -- denn Ihre nächste Schwester hat ihn nicht; und so ist Ihre Seele wieder umgekehrt von andern, dieser Erziehung anhängigen Mängeln ganz rein, z. B. von Verstellung -- Sie verstehen mich immer falsch30 über diesen Vorwurf, als wär' ich das Opfer desselben, da ich doch meistens dessen Ausnahme bin ...
Am lezten Tage dieses Jahrs um 3/4 auf 8 Uhr.
Eine andere Stunde mag das Vorige fortsezen; lassen Sie mich jezt, Seele in meiner Seele, den lezten abrinnenden Tag des Jahrs mit35
„Welt hinter der Wüſte der erſten zeigt. Und ſo an jedem Ende eines „alten Jahres wollen wir wiederholen: wir bleiben vereinigt.“ — D[as] Gemälde für ſchwächere Augen umfärben — illuminierte, getuſchte Ausgabe.
213. An Amöne Herold.5
Hof d. lezten Herbſttag 1795 [20. Dez. Sonntag].
Ich hoffe, ich habe jezt die Minute, die zwiſchen Kälte und Wärme, zwiſchen Empfindlichkeit und Empfindſamkeit ſo das Mittel hält, daß ich mit Ihnen von Ihnen ſelber mit der reinen Gleichmüthigkeit vol[136] Wohlwollen ſprechen kan als wenn ich in der zweiten Welt drüben einer10 abgeſchiednen Seele die Ihrige zu malen hätte. Wär’ es möglich, daß jeder von uns zweimal da wäre und im moraliſchen Sin ſich ſelber ſähe: ſo wäre jeder beſſer — wüſten wir gewis, wir haben gewiſſe Fehler, wir legten ſie ab.
Ich betheuere Ihnen, ich denke jezt an den Ewigen und an ſein Auge,15 vor dem mein enthültes Herz mit dem enthülten Vorſaz liegt, ohne Einmiſchung meines Ichs die kleinen Schatten des Ihrigen zu ſchildern.
Alle kraftvolle Menſchen halten das Recht des Stärkern für ein Recht, ſie leiden über ſich keinen Szepter, weil ſie ſelber einen führen wollen. Daher ſind die meiſten Genies egoiſtiſch. Ihr Talent, das ſie20 erſt verdienen müſſen, machen ſie zu einem Vorwand gröſſerer Foderung; das Geſchenk iſt ihnen ein Recht auf Tribut. Die ganze Dankbarkeit, die der geiſtig Reichere gegen den Schöpfer hat, beſteht darin, daß er deſto mehr von den ärmer Gelaſſenen fodert, anſtat daß gerade die Menſchen vom meiſten Werth den andern am meiſten —25 ſchuldig ſind und nichts zu fodern, ſondern nur mehr zu geben haben. Ihr Egoiſmus kömt von etwas beſſerem her als von Ihrer Erziehung — denn Ihre nächſte Schweſter hat ihn nicht; und ſo iſt Ihre Seele wieder umgekehrt von andern, dieſer Erziehung anhängigen Mängeln ganz rein, z. B. von Verſtellung — Sie verſtehen mich immer falſch30 über dieſen Vorwurf, als wär’ ich das Opfer deſſelben, da ich doch meiſtens deſſen Ausnahme bin ...
Am lezten Tage dieſes Jahrs um ¾ auf 8 Uhr.
Eine andere Stunde mag das Vorige fortſezen; laſſen Sie mich jezt, Seele in meiner Seele, den lezten abrinnenden Tag des Jahrs mit35
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„Welt hinter der Wüſte der erſten zeigt. Und ſo an jedem Ende eines
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D[as] Gemälde für ſchwächere Augen umfärben — illuminierte,
getuſchte Ausgabe.
213. An Amöne Herold. 5
Hof d. lezten Herbſttag 1795 [20. Dez. Sonntag].
Ich hoffe, ich habe jezt die Minute, die zwiſchen Kälte und Wärme,
zwiſchen Empfindlichkeit und Empfindſamkeit ſo das Mittel hält, daß
ich mit Ihnen von Ihnen ſelber mit der reinen Gleichmüthigkeit vol
Wohlwollen ſprechen kan als wenn ich in der zweiten Welt drüben einer 10
abgeſchiednen Seele die Ihrige zu malen hätte. Wär’ es möglich, daß
jeder von uns zweimal da wäre und im moraliſchen Sin ſich ſelber
ſähe: ſo wäre jeder beſſer — wüſten wir gewis, wir haben gewiſſe
Fehler, wir legten ſie ab.
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Ich betheuere Ihnen, ich denke jezt an den Ewigen und an ſein Auge, 15
vor dem mein enthültes Herz mit dem enthülten Vorſaz liegt, ohne
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Alle kraftvolle Menſchen halten das Recht des Stärkern für ein
Recht, ſie leiden über ſich keinen Szepter, weil ſie ſelber einen führen
wollen. Daher ſind die meiſten Genies egoiſtiſch. Ihr Talent, das ſie 20
erſt verdienen müſſen, machen ſie zu einem Vorwand gröſſerer
Foderung; das Geſchenk iſt ihnen ein Recht auf Tribut. Die ganze
Dankbarkeit, die der geiſtig Reichere gegen den Schöpfer hat, beſteht
darin, daß er deſto mehr von den ärmer Gelaſſenen fodert, anſtat daß
gerade die Menſchen vom meiſten Werth den andern am meiſten — 25
ſchuldig ſind und nichts zu fodern, ſondern nur mehr zu geben haben.
Ihr Egoiſmus kömt von etwas beſſerem her als von Ihrer Erziehung
— denn Ihre nächſte Schweſter hat ihn nicht; und ſo iſt Ihre Seele
wieder umgekehrt von andern, dieſer Erziehung anhängigen Mängeln
ganz rein, z. B. von Verſtellung — Sie verſtehen mich immer falſch 30
über dieſen Vorwurf, als wär’ ich das Opfer deſſelben, da ich doch
meiſtens deſſen Ausnahme bin ...
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/150>, abgerufen am 07.07.2024.
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