Ich schreibe gerade an den Rektor und wil uns um 5 V Uhr [120]melden, wenn du wilst. Gestern braucht' ich eine weisse Müze und eine warme Stube und um 9 Uhr ein warmes Bette -- darum kont' ich5 nicht kommen.
*186. An J. Chr. K. Moritz in Berlin.
Hof d. 30 Oct. 1795.
Mein Lieber,
Ihre schönen Briefe sind mir eine camera obscura oder lucida,10 worin ich die Zimmer unsers Freundes Mazdorf so deutlich, und mit solcher Sehnsucht, hineinzutreten, sehe, daß ich wahrscheinlich diese Sehnsucht durch den Postwagen im künftigen Frühling stillen werde. --
Die Mauriziana in Ihrem lezten Briefe verdienen mehrere Leser; und ich bitte Sie, im künftigen Kniestük von Reiser sie nicht aus-15 zulassen. Ich bitte Sie blos um notas variorum zum Hartknopf, nicht um diesen selber, weil ich ihn, wie alle meine Schoos-Bücher von Herder, Göthe, Sterne, Swift etc. auswendig kan, und weil er hier nicht blos in, sondern auch ausser meinem Kopfe ist. -- Es wird, glaub' ich, für das fremde Interesse und für das eigne Erinnern gut20 sein, wenn der väterliche dualis, der uns die Fortsezung von Reiser giebt, einzelne Tage -- Weihnachts-, Neujahrs-, Investitur-, Abreisetage etc. -- wählt, und in ihnen durch eine fortgehende Schil- derung, die von Morgen gegen Abend geht, Reisers edle Anomalien aufzählt, anstat einen Archipelagus schwimmender isolierter Inseln von25 Bemerkungen zu liefern. So wird es dramatisch und individualisiert: der Mensch wil nichts ohne Zusammenhang, wenigstens [nicht] ohne den der Zeit.
Sie verzeihen, ich kleide meinen Wunsch in einen Rath ein, wie andere umgekehrt.30
Nur ein Wort auf Ihr Wort über Ihre sogenante Resignazion auf glänzende Pro- und Adspekten. -- Beim Himmel! wir Menschen kleben troz aller gallischen und stoischen Philosophie noch zu sehr an der Vergötterung der Stände. -- Es giebt in der Welt nur zwei Stände, den aufgeklärten und den blinden -- den lesenden und den35 buchstabierenden. -- Da Sie so sehr zum erstern gehören -- da das
185. An Chriſtian Otto.
[Hof, 29. Okt. 1795?]
Ich ſchreibe gerade an den Rektor und wil uns um 5 〈V〉 Uhr [120]melden, wenn du wilſt. Geſtern braucht’ ich eine weiſſe Müze und eine warme Stube und um 9 Uhr ein warmes Bette — darum kont’ ich5 nicht kommen.
*186. An J. Chr. K. Moritz in Berlin.
Hof d. 30 Oct. 1795.
Mein Lieber,
Ihre ſchönen Briefe ſind mir eine camera obscura oder lucida,10 worin ich die Zimmer unſers Freundes Mazdorf ſo deutlich, und mit ſolcher Sehnſucht, hineinzutreten, ſehe, daß ich wahrſcheinlich dieſe Sehnſucht durch den Poſtwagen im künftigen Frühling ſtillen werde. —
Die Mauriziana in Ihrem lezten Briefe verdienen mehrere Leſer; und ich bitte Sie, im künftigen Knieſtük von Reiſer ſie nicht aus-15 zulaſſen. Ich bitte Sie blos um notas variorum zum Hartknopf, nicht um dieſen ſelber, weil ich ihn, wie alle meine Schoos-Bücher von Herder, Göthe, Sterne, Swift ꝛc. auswendig kan, und weil er hier nicht blos in, ſondern auch auſſer meinem Kopfe iſt. — Es wird, glaub’ ich, für das fremde Intereſſe und für das eigne Erinnern gut20 ſein, wenn der väterliche dualis, der uns die Fortſezung von Reiſer giebt, einzelne Tage — Weihnachts-, Neujahrs-, Inveſtitur-, Abreiſetage ꝛc. — wählt, und in ihnen durch eine fortgehende Schil- derung, die von Morgen gegen Abend geht, Reiſers edle Anomalien aufzählt, anſtat einen Archipelagus ſchwimmender iſolierter Inſeln von25 Bemerkungen zu liefern. So wird es dramatiſch und individualiſiert: der Menſch wil nichts ohne Zuſammenhang, wenigſtens [nicht] ohne den der Zeit.
Sie verzeihen, ich kleide meinen Wunſch in einen Rath ein, wie andere umgekehrt.30
Nur ein Wort auf Ihr Wort über Ihre ſogenante Reſignazion auf glänzende Pro- und Adſpekten. — Beim Himmel! wir Menſchen kleben troz aller galliſchen und ſtoiſchen Philoſophie noch zu ſehr an der Vergötterung der Stände. — Es giebt in der Welt nur zwei Stände, den aufgeklärten und den blinden — den leſenden und den35 buchſtabierenden. — Da Sie ſo ſehr zum erſtern gehören — da das
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185. An Chriſtian Otto.
[Hof, 29. Okt. 1795?]
Ich ſchreibe gerade an den Rektor und wil uns um 5 〈V〉 Uhr
melden, wenn du wilſt. Geſtern braucht’ ich eine weiſſe Müze und eine
warme Stube und um 9 Uhr ein warmes Bette — darum kont’ ich 5
nicht kommen.
[120]
*186. An J. Chr. K. Moritz in Berlin.
Hof d. 30 Oct. 1795.
Mein Lieber,
Ihre ſchönen Briefe ſind mir eine camera obscura oder lucida, 10
worin ich die Zimmer unſers Freundes Mazdorf ſo deutlich, und mit
ſolcher Sehnſucht, hineinzutreten, ſehe, daß ich wahrſcheinlich dieſe
Sehnſucht durch den Poſtwagen im künftigen Frühling ſtillen werde. —
Die Mauriziana in Ihrem lezten Briefe verdienen mehrere Leſer;
und ich bitte Sie, im künftigen Knieſtük von Reiſer ſie nicht aus- 15
zulaſſen. Ich bitte Sie blos um notas variorum zum Hartknopf,
nicht um dieſen ſelber, weil ich ihn, wie alle meine Schoos-Bücher von
Herder, Göthe, Sterne, Swift ꝛc. auswendig kan, und weil er hier
nicht blos in, ſondern auch auſſer meinem Kopfe iſt. — Es wird,
glaub’ ich, für das fremde Intereſſe und für das eigne Erinnern gut 20
ſein, wenn der väterliche dualis, der uns die Fortſezung von Reiſer
giebt, einzelne Tage — Weihnachts-, Neujahrs-, Inveſtitur-,
Abreiſetage ꝛc. — wählt, und in ihnen durch eine fortgehende Schil-
derung, die von Morgen gegen Abend geht, Reiſers edle Anomalien
aufzählt, anſtat einen Archipelagus ſchwimmender iſolierter Inſeln von 25
Bemerkungen zu liefern. So wird es dramatiſch und individualiſiert:
der Menſch wil nichts ohne Zuſammenhang, wenigſtens [nicht] ohne
den der Zeit.
Sie verzeihen, ich kleide meinen Wunſch in einen Rath ein, wie
andere umgekehrt. 30
Nur ein Wort auf Ihr Wort über Ihre ſogenante Reſignazion
auf glänzende Pro- und Adſpekten. — Beim Himmel! wir Menſchen
kleben troz aller galliſchen und ſtoiſchen Philoſophie noch zu ſehr an
der Vergötterung der Stände. — Es giebt in der Welt nur zwei
Stände, den aufgeklärten und den blinden — den leſenden und den 35
buchſtabierenden. — Da Sie ſo ſehr zum erſtern gehören — da das
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/135>, abgerufen am 16.02.2025.
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