[Konzept, am Schluß Kopie][Leipzig, 4. April 1783]
Ihr Ruf mag die Zudringlichkeit entschuldigen, womit ein Un- bekanter Ihre Freundschaft sucht. Die Rhetorik der Höflichkeit würde mir mit vielen Entschuldigungen aushelfen; allein ich verlange mer5 aufrichtig als höflich zu sein; und stat aller derer, die die Etiquette lügt, wäl' ich die einzige, die mir mein Herz diktirt: ich möchte Ihr[67] Freund sein. Diesen Wunsch werden Sie mir vergeben, one mich zu kennen; Sie werden mir ihn vielleicht erfüllen, wenn Sie mich kennen. Diesen Brief begleitet ein Buch, für das Sie den Schriftsteller genug10 belonen, wenn Sie es lesen, und den Menschen, wenn Sie ihm ant- worten. Ich gleiche mit meiner Bitte um einen Brief ienem Schneider, der von Farinelli, dem man seinen harmonischen Atem mit einem Herzogtume lonte, seinen Arbeitslon nicht in Geld, sondern in Gesang forderte; ein Fal, den ein verschuldeter Poet umsonst wünscht. Die15 Bitte war sonderbar; die Erfüllung derselben war es nicht weniger. Der Man, der keinem freigebigen Grossen sang, sang dem Schneider -- so wie Sie mir schreiben werden. Die Feler meines Buchs werden Sie an meine Jugend erinnern; sie hat sie verursacht -- aber sie ent- schuldigt sie vielleicht auch. Mit den geistigen Kindern ists nicht wie20 mit den leiblichen. Bei diesen gilt der Spruch: "Ruben meine erste Kraft etc." bei ienen aber ein andrer: "die ersten werden die lezten sein", und nicht blos die Adern sondern auch die Produkte des Jünglings ent- halten mer Serum als Kruor. Vielleicht läst sich der Weinstein an den Zänen meines Kindes noch wegfeilen; vielleicht kan ich seinem25 Tode noch [durch] Heilung zuvorkommen. -- Übrigens lert ia der grosse Katechismus Lutheri, daß die Wiedergeburt das Kind von der Sünde reinigt, die ihm der Vater mitgeteilt. Scholion: ein Autor drükt das durch eine scharfe Kritik abgedrungne Versprechen, sein Buch zu verbessern, gewönlich mit einem edlen Zorn so aus: "Ich wil30 es auch vertilgen"; eben so wie nach dem N. T. das Auge ausreissen nichts sagt als es beherschen. -- In 4 Monaten schikk' ich Ihnen vielleicht seinen Bruder, der one gut zu sein --
Die ersten Briefe an eine Person sind immer die schlechtesten und selbst der Anfang eines Schreibens ist schlechter als das Ende desselben.35 Die Freiheit im Denken zeugt nicht blos die guten Bücher, sondern auch die guten Briefe. Nichts ist aber intoleranter als die Etiquette
36. An Dr.Doppelmaier in Schwarzenbach.
[Konzept, am Schluß Kopie][Leipzig, 4. April 1783]
Ihr Ruf mag die Zudringlichkeit entſchuldigen, womit ein Un- bekanter Ihre Freundſchaft ſucht. Die Rhetorik der Höflichkeit würde mir mit vielen Entſchuldigungen aushelfen; allein ich verlange mer5 aufrichtig als höflich zu ſein; und ſtat aller derer, die die Etiquette lügt, wäl’ ich die einzige, die mir mein Herz diktirt: ich möchte Ihr[67] Freund ſein. Dieſen Wunſch werden Sie mir vergeben, one mich zu kennen; Sie werden mir ihn vielleicht erfüllen, wenn Sie mich kennen. Dieſen Brief begleitet ein Buch, für das Sie den Schriftſteller genug10 belonen, wenn Sie es leſen, und den Menſchen, wenn Sie ihm ant- worten. Ich gleiche mit meiner Bitte um einen Brief ienem Schneider, der von Farinelli, dem man ſeinen harmoniſchen Atem mit einem Herzogtume lonte, ſeinen Arbeitslon nicht in Geld, ſondern in Geſang forderte; ein Fal, den ein verſchuldeter Poet umſonſt wünſcht. Die15 Bitte war ſonderbar; die Erfüllung derſelben war es nicht weniger. Der Man, der keinem freigebigen Groſſen ſang, ſang dem Schneider — ſo wie Sie mir ſchreiben werden. Die Feler meines Buchs werden Sie an meine Jugend erinnern; ſie hat ſie verurſacht — aber ſie ent- ſchuldigt ſie vielleicht auch. Mit den geiſtigen Kindern iſts nicht wie20 mit den leiblichen. Bei dieſen gilt der Spruch: „Ruben meine erſte Kraft ꝛc.“ bei ienen aber ein andrer: „die erſten werden die lezten ſein“, und nicht blos die Adern ſondern auch die Produkte des Jünglings ent- halten mer Serum als Kruor. Vielleicht läſt ſich der Weinſtein an den Zänen meines Kindes noch wegfeilen; vielleicht kan ich ſeinem25 Tode noch [durch] Heilung zuvorkommen. — Übrigens lert ia der groſſe Katechiſmus Lutheri, daß die Wiedergeburt das Kind von der Sünde reinigt, die ihm der Vater mitgeteilt. Scholion: ein Autor drükt das durch eine ſcharfe Kritik abgedrungne Verſprechen, ſein Buch zu verbeſſern, gewönlich mit einem edlen Zorn ſo aus: „Ich wil30 es auch vertilgen“; eben ſo wie nach dem N. T. das Auge ausreiſſen nichts ſagt als es beherſchen. — In 4 Monaten ſchikk’ ich Ihnen vielleicht ſeinen Bruder, der one gut zu ſein —
Die erſten Briefe an eine Perſon ſind immer die ſchlechteſten und ſelbſt der Anfang eines Schreibens iſt ſchlechter als das Ende deſſelben.35 Die Freiheit im Denken zeugt nicht blos die guten Bücher, ſondern auch die guten Briefe. Nichts iſt aber intoleranter als die Etiquette
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[61/0084]
36. An Dr. Doppelmaier in Schwarzenbach.
[Leipzig, 4. April 1783]
Ihr Ruf mag die Zudringlichkeit entſchuldigen, womit ein Un-
bekanter Ihre Freundſchaft ſucht. Die Rhetorik der Höflichkeit würde
mir mit vielen Entſchuldigungen aushelfen; allein ich verlange mer 5
aufrichtig als höflich zu ſein; und ſtat aller derer, die die Etiquette
lügt, wäl’ ich die einzige, die mir mein Herz diktirt: ich möchte Ihr
Freund ſein. Dieſen Wunſch werden Sie mir vergeben, one mich zu
kennen; Sie werden mir ihn vielleicht erfüllen, wenn Sie mich kennen.
Dieſen Brief begleitet ein Buch, für das Sie den Schriftſteller genug 10
belonen, wenn Sie es leſen, und den Menſchen, wenn Sie ihm ant-
worten. Ich gleiche mit meiner Bitte um einen Brief ienem Schneider,
der von Farinelli, dem man ſeinen harmoniſchen Atem mit einem
Herzogtume lonte, ſeinen Arbeitslon nicht in Geld, ſondern in Geſang
forderte; ein Fal, den ein verſchuldeter Poet umſonſt wünſcht. Die 15
Bitte war ſonderbar; die Erfüllung derſelben war es nicht weniger.
Der Man, der keinem freigebigen Groſſen ſang, ſang dem Schneider —
ſo wie Sie mir ſchreiben werden. Die Feler meines Buchs werden Sie
an meine Jugend erinnern; ſie hat ſie verurſacht — aber ſie ent-
ſchuldigt ſie vielleicht auch. Mit den geiſtigen Kindern iſts nicht wie 20
mit den leiblichen. Bei dieſen gilt der Spruch: „Ruben meine erſte
Kraft ꝛc.“ bei ienen aber ein andrer: „die erſten werden die lezten ſein“,
und nicht blos die Adern ſondern auch die Produkte des Jünglings ent-
halten mer Serum als Kruor. Vielleicht läſt ſich der Weinſtein an
den Zänen meines Kindes noch wegfeilen; vielleicht kan ich ſeinem 25
Tode noch [durch] Heilung zuvorkommen. — Übrigens lert ia der
groſſe Katechiſmus Lutheri, daß die Wiedergeburt das Kind von der
Sünde reinigt, die ihm der Vater mitgeteilt. Scholion: ein Autor
drükt das durch eine ſcharfe Kritik abgedrungne Verſprechen, ſein
Buch zu verbeſſern, gewönlich mit einem edlen Zorn ſo aus: „Ich wil 30
es auch vertilgen“; eben ſo wie nach dem N. T. das Auge ausreiſſen
nichts ſagt als es beherſchen. — In 4 Monaten ſchikk’ ich Ihnen
vielleicht ſeinen Bruder, der one gut zu ſein —
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Die erſten Briefe an eine Perſon ſind immer die ſchlechteſten und
ſelbſt der Anfang eines Schreibens iſt ſchlechter als das Ende deſſelben. 35
Die Freiheit im Denken zeugt nicht blos die guten Bücher, ſondern
auch die guten Briefe. Nichts iſt aber intoleranter als die Etiquette
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/84>, abgerufen am 24.11.2024.
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