in einem Leben, das eine Fortschreitung durch Semitonien ist, die einzige erleichternde Sprache des so oft hintergangnen liebenden Herzens sind -- die Wolke des Lebens ziehe langsam und schimmernd und mit sanften Thränen über Ihr Haupt und entblösse spät den Himmel, der auf der zweiten Welt liegt, die so weit zurükliegt und5 die kaum die Parallaxe einer Terzie hat. -- Indem Sie auf dem[374] steinigenden und blizenden Aetna des Lebens stehen, sei es Ihr Trost und meiner auch, daß wir dafür die Sonne schöner kommen sehen.
391. An Helene Köhler in Steben.10
[Anfangs Kopie][Schwarzenbach, 22. Juni 1792. Freitag]
Ich schreibe diesen kleinen Brief, um mich zu entschuldigen, daß ich gelogen und keinen langen geschrieben. Die Unsterblichkeit oder Ewigkeit des Menschen erschöpft kein Buch, geschweige ein Brief; der Gedanke daran durchkreuzt die ganze Schöpfung, läuft um alle Welten15 und Jahrhunderte, schliesset alle Augen wieder auf, die von Gottes- äckern zugedrükt liegen, und ist so sonnengros mit seinen Stralen, daß es leichter ist, einen Tag als eine Stunde davon zu reden: Gleichwol etc. thu' ichs. Ich wil dieser grossen Materie einen flatternden Schmetter- ling vorausschicken. -- Ich hätt' es schon heute gethan, wenn ich Zeit20 hätte, Be [!] zu sagen, da ich A gesagt. -- Ich habe eine Reise- beschreibung zu machen, die noch eher fertig werden muß als die Reise selbst, damit ich sie das Reisejournal Ihnen bei unsrer Ankunft über- reichen kan ...
Tagebuch alles dessen, was auf unserer künftigen25 Reise vorgefallen.
""Wir giengen gerade um die Stunde ab, wo von dem Sabbaths- fleisch nichts zu haben ist als vorderes und hageres, um 3 Uhr. Ich hatte mich ganz nach dem Modejournal ausmeubliert und hatte namentlich 2 Strümpfe, 1 Ueberrok; unter diesem war ein Seidengillet30 oder veste verstekt, von der nichts zu sehen war als was ganz war. Wir nahmen aus dem Laden 2 Dinge mit, 1 guten Abend und 1 Brief; ich hätt' es nicht geglaubt, hätt' ich nicht Zeichen und Wunder und Briefe gesehen. -- Draussen ruhte ein erhabner Tag mit seinen spielenden Blumen, mit seinen rückenden Schatten und mit allen seinen35
23*
in einem Leben, das eine Fortſchreitung durch Semitonien iſt, die einzige erleichternde Sprache des ſo oft hintergangnen liebenden Herzens ſind — die Wolke des Lebens ziehe langſam und ſchimmernd und mit ſanften Thränen über Ihr Haupt und entblöſſe ſpät den Himmel, der auf der zweiten Welt liegt, die ſo weit zurükliegt und5 die kaum die Parallaxe einer Terzie hat. — Indem Sie auf dem[374] ſteinigenden und blizenden Aetna des Lebens ſtehen, ſei es Ihr Troſt und meiner auch, daß wir dafür die Sonne ſchöner kommen ſehen.
391. An Helene Köhler in Steben.10
[Anfangs Kopie][Schwarzenbach, 22. Juni 1792. Freitag]
Ich ſchreibe dieſen kleinen Brief, um mich zu entſchuldigen, daß ich gelogen und keinen langen geſchrieben. Die Unſterblichkeit oder Ewigkeit des Menſchen erſchöpft kein Buch, geſchweige ein Brief; der Gedanke daran durchkreuzt die ganze Schöpfung, läuft um alle Welten15 und Jahrhunderte, ſchlieſſet alle Augen wieder auf, die von Gottes- äckern zugedrükt liegen, und iſt ſo ſonnengros mit ſeinen Stralen, daß es leichter iſt, einen Tag als eine Stunde davon zu reden: Gleichwol ꝛc. thu’ ichs. Ich wil dieſer groſſen Materie einen flatternden Schmetter- ling vorausſchicken. — Ich hätt’ es ſchon heute gethan, wenn ich Zeit20 hätte, Be [!] zu ſagen, da ich A geſagt. — Ich habe eine Reiſe- beſchreibung zu machen, die noch eher fertig werden muß als die Reiſe ſelbſt, damit ich ſie 〈das Reiſejournal〉 Ihnen bei unſrer Ankunft über- reichen kan …
Tagebuch alles dessen, was auf unserer künftigen25 Reise vorgefallen.
„„Wir giengen gerade um die Stunde ab, wo von dem Sabbaths- fleiſch nichts zu haben iſt als vorderes und hageres, um 3 Uhr. Ich hatte mich ganz nach dem Modejournal ausmeubliert und hatte namentlich 2 Strümpfe, 1 Ueberrok; unter dieſem war ein Seidengillet30 oder veste verſtekt, von der nichts zu ſehen war als was ganz war. Wir nahmen aus dem Laden 2 Dinge mit, 1 guten Abend und 1 Brief; ich hätt’ es nicht geglaubt, hätt’ ich nicht Zeichen und Wunder und Briefe geſehen. — Drauſſen ruhte ein erhabner Tag mit ſeinen ſpielenden Blumen, mit ſeinen rückenden Schatten und mit allen ſeinen35
23*
<TEI><text><body><divtype="letter"n="1"><p><pbfacs="#f0382"n="355"/>
in einem Leben, das eine Fortſchreitung durch Semitonien iſt, die<lb/>
einzige erleichternde Sprache des ſo oft hintergangnen liebenden<lb/>
Herzens ſind — die Wolke des Lebens ziehe langſam und ſchimmernd<lb/>
und mit ſanften Thränen über Ihr Haupt und entblöſſe ſpät den<lb/>
Himmel, der auf der zweiten Welt liegt, die ſo weit zurükliegt und<lbn="5"/>
die kaum die Parallaxe einer Terzie hat. — Indem Sie auf dem<noteplace="right"><reftarget="1922_Bd#_374">[374]</ref></note><lb/>ſteinigenden und blizenden Aetna des Lebens ſtehen, ſei es Ihr<lb/>
Troſt und meiner auch, daß wir dafür die Sonne ſchöner kommen<lb/>ſehen.</p></div><lb/><divtype="letter"n="1"><head>391. An <hirendition="#g">Helene Köhler in Steben.</hi><lbn="10"/></head><notetype="editorial"><metamark>[</metamark>Anfangs Kopie<metamark>]</metamark></note><dateline><hirendition="#right"><metamark>[</metamark>Schwarzenbach, 22. Juni 1792. Freitag<metamark>]</metamark></hi></dateline><lb/><p>Ich ſchreibe dieſen kleinen Brief, um mich zu entſchuldigen, daß ich<lb/>
gelogen und keinen langen geſchrieben. Die Unſterblichkeit oder<lb/>
Ewigkeit des Menſchen erſchöpft kein Buch, geſchweige ein Brief; der<lb/>
Gedanke daran durchkreuzt die ganze Schöpfung, läuft um alle Welten<lbn="15"/>
und Jahrhunderte, ſchlieſſet alle Augen wieder auf, die von Gottes-<lb/>
äckern zugedrükt liegen, und iſt ſo ſonnengros mit ſeinen Stralen, daß<lb/>
es leichter iſt, einen Tag als eine Stunde davon zu reden: Gleichwol ꝛc.<lb/>
thu’ ichs. Ich wil dieſer groſſen Materie einen flatternden Schmetter-<lb/>
ling vorausſchicken. — Ich hätt’ es ſchon heute gethan, wenn ich Zeit<lbn="20"/>
hätte, Be <metamark>[</metamark>!<metamark>]</metamark> zu ſagen, da ich A geſagt. — Ich habe eine Reiſe-<lb/>
beſchreibung zu machen, die noch eher fertig werden muß als die Reiſe<lb/>ſelbſt, damit ich ſie 〈das Reiſejournal〉 Ihnen bei unſrer Ankunft über-<lb/>
reichen kan …</p><lb/><divn="2"><head><hirendition="#aq"><hirendition="#g"><hirendition="#c">Tagebuch alles dessen, was auf unserer künftigen<lbn="25"/>
Reise vorgefallen.</hi></hi></hi></head><lb/><p>„„Wir giengen gerade um die Stunde ab, wo von dem Sabbaths-<lb/>
fleiſch nichts zu haben iſt als vorderes und hageres, um 3 Uhr. Ich<lb/>
hatte mich ganz nach dem Modejournal ausmeubliert und hatte<lb/>
namentlich 2 Strümpfe, 1 Ueberrok; unter dieſem war ein Seiden<hirendition="#aq">gillet</hi><lbn="30"/>
oder <hirendition="#aq">veste</hi> verſtekt, von der nichts zu ſehen war als was ganz war.<lb/>
Wir nahmen aus dem Laden 2 Dinge mit, 1 guten Abend und 1 Brief;<lb/>
ich hätt’ es nicht geglaubt, hätt’ ich nicht Zeichen und Wunder und<lb/>
Briefe geſehen. — Drauſſen ruhte ein erhabner Tag mit ſeinen<lb/>ſpielenden Blumen, mit ſeinen rückenden Schatten und mit allen ſeinen<lbn="35"/><fwplace="bottom"type="sig">23*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[355/0382]
in einem Leben, das eine Fortſchreitung durch Semitonien iſt, die
einzige erleichternde Sprache des ſo oft hintergangnen liebenden
Herzens ſind — die Wolke des Lebens ziehe langſam und ſchimmernd
und mit ſanften Thränen über Ihr Haupt und entblöſſe ſpät den
Himmel, der auf der zweiten Welt liegt, die ſo weit zurükliegt und 5
die kaum die Parallaxe einer Terzie hat. — Indem Sie auf dem
ſteinigenden und blizenden Aetna des Lebens ſtehen, ſei es Ihr
Troſt und meiner auch, daß wir dafür die Sonne ſchöner kommen
ſehen.
[374]
391. An Helene Köhler in Steben. 10
[Schwarzenbach, 22. Juni 1792. Freitag]
Ich ſchreibe dieſen kleinen Brief, um mich zu entſchuldigen, daß ich
gelogen und keinen langen geſchrieben. Die Unſterblichkeit oder
Ewigkeit des Menſchen erſchöpft kein Buch, geſchweige ein Brief; der
Gedanke daran durchkreuzt die ganze Schöpfung, läuft um alle Welten 15
und Jahrhunderte, ſchlieſſet alle Augen wieder auf, die von Gottes-
äckern zugedrükt liegen, und iſt ſo ſonnengros mit ſeinen Stralen, daß
es leichter iſt, einen Tag als eine Stunde davon zu reden: Gleichwol ꝛc.
thu’ ichs. Ich wil dieſer groſſen Materie einen flatternden Schmetter-
ling vorausſchicken. — Ich hätt’ es ſchon heute gethan, wenn ich Zeit 20
hätte, Be [!] zu ſagen, da ich A geſagt. — Ich habe eine Reiſe-
beſchreibung zu machen, die noch eher fertig werden muß als die Reiſe
ſelbſt, damit ich ſie 〈das Reiſejournal〉 Ihnen bei unſrer Ankunft über-
reichen kan …
Tagebuch alles dessen, was auf unserer künftigen 25
Reise vorgefallen.
„„Wir giengen gerade um die Stunde ab, wo von dem Sabbaths-
fleiſch nichts zu haben iſt als vorderes und hageres, um 3 Uhr. Ich
hatte mich ganz nach dem Modejournal ausmeubliert und hatte
namentlich 2 Strümpfe, 1 Ueberrok; unter dieſem war ein Seidengillet 30
oder veste verſtekt, von der nichts zu ſehen war als was ganz war.
Wir nahmen aus dem Laden 2 Dinge mit, 1 guten Abend und 1 Brief;
ich hätt’ es nicht geglaubt, hätt’ ich nicht Zeichen und Wunder und
Briefe geſehen. — Drauſſen ruhte ein erhabner Tag mit ſeinen
ſpielenden Blumen, mit ſeinen rückenden Schatten und mit allen ſeinen 35
23*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/382>, abgerufen am 25.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.