Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.thätigen Lebens, das Zeit und Willen dem unnüzen Schminken nimt. Die Alten verstehen und goutieren [ist] so verschieden etc. indes b) Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9ten Jahrhundert *) Plato, Sophokles haben oft die geschmaklosesten Auswüchse; ihre übrige10
Geschmakh[aftigkeit] verdanken sie also nicht ihrem Geschmak sondern ihrem Genie. thätigen Lebens, das Zeit und Willen dem unnüzen Schminken nimt. Die Alten verſtehen und goutieren [iſt] ſo verſchieden ꝛc. indes b) Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9ten Jahrhundert *) Plato, Sophokles haben oft die geſchmakloſeſten Auswüchſe; ihre übrige10
Geſchmakh[aftigkeit] verdanken ſie alſo nicht ihrem Geſchmak ſondern ihrem Genie. <TEI> <text> <body> <div type="letter" n="1"> <p><pb facs="#f0359" n="333"/> thätigen Lebens, das Zeit und Willen dem unnüzen Schminken nimt.<lb/> Die Alten fühlten ſo wenig wie Wilde und Kinder die Reize ihrer<lb/> Kompoſizion, weil dieſes <metamark>[?]</metamark> Gefühl erſt vom Vergleich und Kontraſt<lb/> ſcharf wird: die einfache Natur, womit der tyroliſche Hieſel die<lb/> Bewohner und Kenner der geſchnörkelten Natur entzükt, kan der<lb n="5"/> Hieſel ſelbſt nicht fühlen und wenn die römiſchen Groſſen ſich am Spielen<lb/> nakter Kinder labten, womit ſie ihre Zimmer puzten: ſo hatten die<lb/> Groſſen, nicht die Kinder das Vergnügen und den Geſchmak. Die<lb/> Alten ſchrieben mit Geſchmak ohne ihn zu haben (wie <metamark>[</metamark>bei<metamark>]</metamark> Haman ꝛc.<lb/> oft der entgegengeſezte Fal iſt) — die Athener<note place="foot" n="*)">Plato, Sophokles haben oft die geſchmakloſeſten Auswüchſe; ihre übrige<lb n="10"/> Geſchmakh<metamark>[</metamark>aftigkeit<metamark>]</metamark> verdanken ſie alſo nicht ihrem Geſchmak ſondern ihrem Genie.</note> beklatſchten keine<lb/> Redner mehr als die Antitheſenfabrikanten; die Römer liebten Wort-<lb/> ſpiele ꝛc. Hätt’ einer ſo geſchrieben wie Schakeſp<metamark>[</metamark>eare<metamark>]</metamark>: ſie hätten ſich<lb/> alle um ihn geſtelt. Ihrem ungebildeten Geſchmak fehlten nur die<lb/> luxuriöſen Autoren, die der Luxus erſt giebt. Denn es iſt unmöglich,<lb/> daß man vom beſten Geſchmak zum ſchlimmen ſteige; wer einmal einen<lb n="15"/> am Einfachen gefunden, behält ihn ewig und wäre bei einem ganzen<lb/> Volk der Beſiz eines Vorzugs von Auserwählten möglich: ſo könt’<lb/> es ihn nie verlieren. — Den Geſchmak am Geiſt der Alten können<lb/> nicht einzelne Perſonen — denn das Gefühl für iene Rundheit der<note place="right"><ref target="1922_Bd#_352">[352]</ref></note><lb/> Kompoſizion mus durch die Uebung an allen Arten von Schönem, deren<lb n="20"/> <metamark>[</metamark>iedes<metamark>]</metamark> Säkul neue zeugt, von Jahrhundert zu Jahrhundert empfind-<lb/> licher werden — ſondern <metamark>[</metamark>nur<metamark>]</metamark> ganze Völker <metamark>[</metamark>verlieren<metamark>]</metamark>, um die durch<lb/><metamark>[?]</metamark> Verdorbenheit der Sitten der ſtinkende Nebel immer ſchwärzer<lb/> wird, hinter dem iene Grazien ſtehen wie homeriſche Götter hinter<lb/> ihren Wolken.<lb n="25"/> </p> <p>Die Alten verſtehen und goutieren <metamark>[</metamark>iſt<metamark>]</metamark> ſo verſchieden ꝛc. indes<lb/> Lipſius mit geſchmakloſer Kürze dem Seneka und Bembo mit Wäſſerig-<lb/> keit dem Zizero nachſpringen wil. O es gehören andre Herzen und<lb/> Seelenflügel dazu als am und im Rumpf eines Krebs (der ſo ſehr über<lb/> die Devalvazion der Alten winſelt und greint) ſtecken, um zu fühlen,<lb n="30"/> warum die Alten den Plato den Götlichen nanten, warum Xenophon<lb/> gros und die Anthologen edel ſind.</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">b)</hi> Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9<hi rendition="#sup">ten</hi> Jahrhundert<lb/> hätte ſie alles gethan; aber im 18<hi rendition="#sup">ten</hi>, wo alle Völker <hi rendition="#aq">gradus ad parnas-<lb/></hi></p> </div> </body> </text> </TEI> [333/0359]
thätigen Lebens, das Zeit und Willen dem unnüzen Schminken nimt.
Die Alten fühlten ſo wenig wie Wilde und Kinder die Reize ihrer
Kompoſizion, weil dieſes [?] Gefühl erſt vom Vergleich und Kontraſt
ſcharf wird: die einfache Natur, womit der tyroliſche Hieſel die
Bewohner und Kenner der geſchnörkelten Natur entzükt, kan der 5
Hieſel ſelbſt nicht fühlen und wenn die römiſchen Groſſen ſich am Spielen
nakter Kinder labten, womit ſie ihre Zimmer puzten: ſo hatten die
Groſſen, nicht die Kinder das Vergnügen und den Geſchmak. Die
Alten ſchrieben mit Geſchmak ohne ihn zu haben (wie [bei] Haman ꝛc.
oft der entgegengeſezte Fal iſt) — die Athener *) beklatſchten keine
Redner mehr als die Antitheſenfabrikanten; die Römer liebten Wort-
ſpiele ꝛc. Hätt’ einer ſo geſchrieben wie Schakeſp[eare]: ſie hätten ſich
alle um ihn geſtelt. Ihrem ungebildeten Geſchmak fehlten nur die
luxuriöſen Autoren, die der Luxus erſt giebt. Denn es iſt unmöglich,
daß man vom beſten Geſchmak zum ſchlimmen ſteige; wer einmal einen 15
am Einfachen gefunden, behält ihn ewig und wäre bei einem ganzen
Volk der Beſiz eines Vorzugs von Auserwählten möglich: ſo könt’
es ihn nie verlieren. — Den Geſchmak am Geiſt der Alten können
nicht einzelne Perſonen — denn das Gefühl für iene Rundheit der
Kompoſizion mus durch die Uebung an allen Arten von Schönem, deren 20
[iedes] Säkul neue zeugt, von Jahrhundert zu Jahrhundert empfind-
licher werden — ſondern [nur] ganze Völker [verlieren], um die durch
[?] Verdorbenheit der Sitten der ſtinkende Nebel immer ſchwärzer
wird, hinter dem iene Grazien ſtehen wie homeriſche Götter hinter
ihren Wolken. 25
[352]Die Alten verſtehen und goutieren [iſt] ſo verſchieden ꝛc. indes
Lipſius mit geſchmakloſer Kürze dem Seneka und Bembo mit Wäſſerig-
keit dem Zizero nachſpringen wil. O es gehören andre Herzen und
Seelenflügel dazu als am und im Rumpf eines Krebs (der ſo ſehr über
die Devalvazion der Alten winſelt und greint) ſtecken, um zu fühlen, 30
warum die Alten den Plato den Götlichen nanten, warum Xenophon
gros und die Anthologen edel ſind.
b) Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9ten Jahrhundert
hätte ſie alles gethan; aber im 18ten, wo alle Völker gradus ad parnas-
*) Plato, Sophokles haben oft die geſchmakloſeſten Auswüchſe; ihre übrige 10
Geſchmakh[aftigkeit] verdanken ſie alſo nicht ihrem Geſchmak ſondern ihrem Genie.
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Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen). Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
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