Endlich kömt Ihr Brief noch vor dem Kometen. So wilkommen dieser den Astronomen sein wird, so lieb war mir iener. Ich bin so schnel mit meiner Antwort da 1) weil iezt Ihr Brief noch frisch in5 Ihrem Gedächtnis und 2) noch frisch in meiner Empfindung ist. Man solte ieden Brief in dem Feuer beantworten, in das uns seine erste Lesung sezt. Es kömt überhaupt ieder Zustand der Seele nur 1 mal und ie lebhafter er war, desto unvolkommer wiederholt er sich; man kan nur 1 mal über den nämlichen Gegenstand Wiz etc. in10 Einem Fokus samlen; die übrigen male liegt der Gegenstand immer ienseits oder diesseits des Fokalabstands... Sie müssen mir erlauben, daß ich mir alles erlauben darf, besonders Unordnung; und meine Feder dekliniert beständig, zumal so nahe am Pol, und was ist die Geschichte des ganzen Lebens selbst anders als ein tranßendentes15 Deklinatorium? -- Eh' ich der Hauptsache zu irre: nur noch ein paar nebensächliche Worte. Sie halten Leibniz für einen Aequilibristen, ich für einen Deterministen -- Sie seiner Wahl des Besten wegen, ich eben deswegen. Einem solchen gigantischen Kopf und polyphemischen Auge konte unmöglich verdecket bleiben, daß das einzig wählbare [der]20 Dinge, das Beste, iede andre Wahl verbiete, und es ist einerlei, an welchen Ketten ich geschleppet werde, an kosmologischen oder psycho- logischen. Aber Leibniz wolt' es nur andern Köpfen und Augen ver- dekt halten. Dazu kömt, daß er -- der nicht den Zirkel sondern die Transsubstanziazion zu quadrieren wuste -- auch alles Mögliche zu25 quadrieren und zu beweisen verstand und zwar mit Überzeugung: an allen Systemen fand er die wahre Seite so leicht als die falsche... es solte ein Buch geben, worin das Wahre stände, das alle Systeme haben; kein falsches System gab es nie, solange Welt und Systeme stehen. -- Da Sie meine Harmonie verlegt haben wie die Welt die30 leibnizsche: so werden Sie einen solchen Jammer leichter tragen, wenn Sie den Seneka oder Boethius lesen; ich hab' es auch gethan und bin wieder ruhiger, da zumal so ein Blat sich so leicht wie ein Bandwurm ergänzt.
[306]den 28 Apr.35
Ich habe nichts gegen aber wol 100 Dinge über Ihre so schönen Gedanken von der Autogonie zu sagen. .. es giebt Dinge, die man
[305]319. An Wernlein in Hof.
[Kopie][Schwarzenbach, 27. April 1790]
Endlich kömt Ihr Brief noch vor dem Kometen. So wilkommen dieſer den Aſtronomen ſein wird, ſo lieb war mir iener. Ich bin ſo ſchnel mit meiner Antwort da 1) weil iezt Ihr Brief noch friſch in5 Ihrem Gedächtnis und 2) noch friſch in meiner Empfindung iſt. Man ſolte ieden Brief in dem Feuer beantworten, in das uns ſeine erſte Leſung ſezt. Es kömt überhaupt ieder Zuſtand der Seele nur 1 mal und ie lebhafter er war, deſto unvolkommer wiederholt er ſich; man kan nur 1 mal über den nämlichen Gegenſtand Wiz ꝛc. in10 Einem Fokus ſamlen; die übrigen male liegt der Gegenſtand immer ienſeits oder dieſſeits des Fokalabſtands... Sie müſſen mir erlauben, daß ich mir alles erlauben darf, beſonders Unordnung; und meine Feder dekliniert beſtändig, zumal ſo nahe am Pol, und was iſt die Geſchichte des ganzen Lebens ſelbſt anders als ein tranſzendentes15 Deklinatorium? — Eh’ ich der Hauptſache zu irre: nur noch ein paar nebenſächliche Worte. Sie halten Leibniz für einen Aequilibriſten, ich für einen Determiniſten — Sie ſeiner Wahl des Beſten wegen, ich eben deswegen. Einem ſolchen gigantiſchen Kopf und polyphemiſchen Auge konte unmöglich verdecket bleiben, daß das einzig wählbare [der]20 Dinge, das Beſte, iede andre Wahl verbiete, und es iſt einerlei, an welchen Ketten ich geſchleppet werde, an kosmologiſchen oder pſycho- logiſchen. Aber Leibniz wolt’ es nur andern Köpfen und Augen ver- dekt halten. Dazu kömt, daß er — der nicht den Zirkel ſondern die Transſubſtanziazion zu quadrieren wuſte — auch alles Mögliche zu25 quadrieren und zu beweiſen verſtand und zwar mit Überzeugung: an allen Syſtemen fand er die wahre Seite ſo leicht als die falſche... es ſolte ein Buch geben, worin das Wahre ſtände, das alle Syſteme haben; kein falſches Syſtem gab es nie, ſolange Welt und Syſteme ſtehen. — Da Sie meine Harmonie verlegt haben wie die Welt die30 leibnizſche: ſo werden Sie einen ſolchen Jammer leichter tragen, wenn Sie den Seneka oder Boethius leſen; ich hab’ es auch gethan und bin wieder ruhiger, da zumal ſo ein Blat ſich ſo leicht wie ein Bandwurm ergänzt.
[306]den 28 Apr.35
Ich habe nichts gegen aber wol 100 Dinge über Ihre ſo ſchönen Gedanken von der Autogonie zu ſagen. .. es giebt Dinge, die man
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319. An Wernlein in Hof.
[Schwarzenbach, 27. April 1790]
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ſchnel mit meiner Antwort da 1) weil iezt Ihr Brief noch friſch in 5
Ihrem Gedächtnis und 2) noch friſch in meiner Empfindung iſt.
Man ſolte ieden Brief in dem Feuer beantworten, in das uns ſeine
erſte Leſung ſezt. Es kömt überhaupt ieder Zuſtand der Seele nur
1 mal und ie lebhafter er war, deſto unvolkommer wiederholt er
ſich; man kan nur 1 mal über den nämlichen Gegenſtand Wiz ꝛc. in 10
Einem Fokus ſamlen; die übrigen male liegt der Gegenſtand immer
ienſeits oder dieſſeits des Fokalabſtands... Sie müſſen mir erlauben,
daß ich mir alles erlauben darf, beſonders Unordnung; und meine
Feder dekliniert beſtändig, zumal ſo nahe am Pol, und was iſt die
Geſchichte des ganzen Lebens ſelbſt anders als ein tranſzendentes 15
Deklinatorium? — Eh’ ich der Hauptſache zu irre: nur noch ein paar
nebenſächliche Worte. Sie halten Leibniz für einen Aequilibriſten, ich
für einen Determiniſten — Sie ſeiner Wahl des Beſten wegen, ich
eben deswegen. Einem ſolchen gigantiſchen Kopf und polyphemiſchen
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welchen Ketten ich geſchleppet werde, an kosmologiſchen oder pſycho-
logiſchen. Aber Leibniz wolt’ es nur andern Köpfen und Augen ver-
dekt halten. Dazu kömt, daß er — der nicht den Zirkel ſondern die
Transſubſtanziazion zu quadrieren wuſte — auch alles Mögliche zu 25
quadrieren und zu beweiſen verſtand und zwar mit Überzeugung: an
allen Syſtemen fand er die wahre Seite ſo leicht als die falſche... es
ſolte ein Buch geben, worin das Wahre ſtände, das alle Syſteme
haben; kein falſches Syſtem gab es nie, ſolange Welt und Syſteme
ſtehen. — Da Sie meine Harmonie verlegt haben wie die Welt die 30
leibnizſche: ſo werden Sie einen ſolchen Jammer leichter tragen, wenn
Sie den Seneka oder Boethius leſen; ich hab’ es auch gethan und bin
wieder ruhiger, da zumal ſo ein Blat ſich ſo leicht wie ein Bandwurm
ergänzt.
den 28 Apr. 35
Ich habe nichts gegen aber wol 100 Dinge über Ihre ſo ſchönen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/316>, abgerufen am 22.11.2024.
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