stündige Folterung des Kopfes erlaubt. Und die Offenheit des Busens hindert das Schwizen, das gefärliche Unterbinden gewisser Adern des Halses und vergnügt durch das Gefül der bequemen Entiochung. Also trift es mich nicht, wenn Sie sagen, eine Ameise mus sich wie die andre tragen -- denn ich trage mich ia, wie andre Ameisen in Leipzig und5 in Berlin, nur nicht wie die Ameisen in Schwarzenbach an der Sal -- Es trift mich nicht, wenn Sie meine eignen Exzerpten mir an den Kopf werfen; die Stelle aus dem Young ist noch überdies nur eine[100] wizige Sentenz, aber kein Beweis: denn es ist noch die Frage, ob die eignen Torheiten oder die fremden besser sind -- und wenn Sie in10 Ihrem Briefe mir mit Young zuruffen "wenn du unmodisch sein wilst, so sei weise" so verfallen Sie und Young in einen Widerspruch mit den vorhergehenden Zeilen. -- Die Sprichwörter sind nur Sentenzen, aber keine Beweise; ia sie beweisen obendrein zuviel. Denn wenn ich nicht wider den Strom schwimmen sol, so wird dieser Strom15 nicht selten auch meine Tugend scheitern machen -- denn das Reich des Lasters ist eben so gros und ausgebreitet als das Reich der Mode; und wenn ich mit den Wölfen heulen sol, warum sol ich nicht mit ihnen rauben? Die Schlüsse des Seneka treffen noch weniger; sein Wiz leuchtet auf der Zündpfanne und die Entzündung desselben droht20 mit einer Kugel, womit er die Flinte zu laden vergessen. Sequere vitam meliorem quam vulgus, non contrariam; aber warum denn? und wenn nun vita melior und contraria oft Synonymen wären? Ferner publici mores sind immer den boni mores entgegengesezt; es läst sich also eine Temperatur zwischen beiden nicht so leicht treffen. Non25 populum in te vitae novitate convertas; tue ich das? und Seneka's non oder ne beweist ia nicht, daß man es nicht tun dürfe. "Ist die Schale verunstaltet, so leidet auch der Kern" sagen Sie; aber warum denn? Und ferner ist ia noch erst auszumachen, was an der Schale Verunstaltung ist. Sie halten das am Diogenes für eine Verunstal-30 tung, was Rousseau, Wieland und der vortrefliche Verfasser der Antoinette für eine Verschönerung halten. Raubt diese sogenante Verunstaltung diesem grossen Manne seine lebhafte Philosophie, sein gutes Herz, seinen lerenden Wiz, seine Tugenden? Sie raubte ihm nichts; aber sie gab ihm Ruhe, Unabhängigkeit von fremden35 Meinungen und von quälenden Bedürfnissen und die Unverlezbarkeit, auf deren Bewustsein er die Bestrafung iedes mächtigen Lasterhaften
ſtündige Folterung des Kopfes erlaubt. Und die Offenheit des Buſens hindert das Schwizen, das gefärliche Unterbinden gewiſſer Adern des Halſes und vergnügt durch das Gefül der bequemen Entiochung. Alſo trift es mich nicht, wenn Sie ſagen, eine Ameiſe mus ſich wie die andre tragen — denn ich trage mich ia, wie andre Ameiſen in Leipzig und5 in Berlin, nur nicht wie die Ameiſen in Schwarzenbach an der Sal — Es trift mich nicht, wenn Sie meine eignen Exzerpten mir an den Kopf werfen; die Stelle aus dem Young iſt noch überdies nur eine[100] wizige Sentenz, aber kein Beweis: denn es iſt noch die Frage, ob die eignen Torheiten oder die fremden beſſer ſind — und wenn Sie in10 Ihrem Briefe mir mit Young zuruffen „wenn du unmodiſch ſein wilſt, ſo ſei weiſe“ ſo verfallen Sie und Young in einen Widerſpruch mit den vorhergehenden Zeilen. — Die Sprichwörter ſind nur Sentenzen, aber keine Beweiſe; ia ſie beweiſen obendrein zuviel. Denn wenn ich nicht wider den Strom ſchwimmen ſol, ſo wird dieſer Strom15 nicht ſelten auch meine Tugend ſcheitern machen — denn das Reich des Laſters iſt eben ſo gros und ausgebreitet als das Reich der Mode; und wenn ich mit den Wölfen heulen ſol, warum ſol ich nicht mit ihnen rauben? Die Schlüſſe des Seneka treffen noch weniger; ſein Wiz leuchtet auf der Zündpfanne und die Entzündung deſſelben droht20 mit einer Kugel, womit er die Flinte zu laden vergeſſen. Sequere vitam meliorem quam vulgus, non contrariam; aber warum denn? und wenn nun vita melior und contraria oft Synonymen wären? Ferner publici mores ſind immer den boni mores entgegengeſezt; es läſt ſich alſo eine Temperatur zwiſchen beiden nicht ſo leicht treffen. Non25 populum in te vitae novitate convertas; tue ich das? und Seneka’s non oder ne beweiſt ia nicht, daß man es nicht tun dürfe. „Iſt die Schale verunſtaltet, ſo leidet auch der Kern“ ſagen Sie; aber warum denn? Und ferner iſt ia noch erſt auszumachen, was an der Schale Verunſtaltung iſt. Sie halten das am Diogenes für eine Verunſtal-30 tung, was Rouſſeau, Wieland und der vortrefliche Verfaſſer der Antoinette für eine Verſchönerung halten. Raubt dieſe ſogenante Verunſtaltung dieſem groſſen Manne ſeine lebhafte Philoſophie, ſein gutes Herz, ſeinen lerenden Wiz, ſeine Tugenden? Sie raubte ihm nichts; aber ſie gab ihm Ruhe, Unabhängigkeit von fremden35 Meinungen und von quälenden Bedürfniſſen und die Unverlezbarkeit, auf deren Bewuſtſein er die Beſtrafung iedes mächtigen Laſterhaften
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trift es mich nicht, wenn Sie ſagen, eine Ameiſe mus ſich wie die
andre tragen — denn ich trage mich ia, wie andre Ameiſen in Leipzig und 5
in Berlin, nur nicht wie die Ameiſen in Schwarzenbach an der Sal —
Es trift mich nicht, wenn Sie meine eignen Exzerpten mir an den
Kopf werfen; die Stelle aus dem Young iſt noch überdies nur eine
wizige Sentenz, aber kein Beweis: denn es iſt noch die Frage, ob die
eignen Torheiten oder die fremden beſſer ſind — und wenn Sie in 10
Ihrem Briefe mir mit Young zuruffen „wenn du unmodiſch ſein
wilſt, ſo ſei weiſe“ ſo verfallen Sie und Young in einen Widerſpruch
mit den vorhergehenden Zeilen. — Die Sprichwörter ſind nur
Sentenzen, aber keine Beweiſe; ia ſie beweiſen obendrein zuviel. Denn
wenn ich nicht wider den Strom ſchwimmen ſol, ſo wird dieſer Strom 15
nicht ſelten auch meine Tugend ſcheitern machen — denn das Reich
des Laſters iſt eben ſo gros und ausgebreitet als das Reich der Mode;
und wenn ich mit den Wölfen heulen ſol, warum ſol ich nicht mit
ihnen rauben? Die Schlüſſe des Seneka treffen noch weniger; ſein
Wiz leuchtet auf der Zündpfanne und die Entzündung deſſelben droht 20
mit einer Kugel, womit er die Flinte zu laden vergeſſen. Sequere vitam
meliorem quam vulgus, non contrariam; aber warum denn? und
wenn nun vita melior und contraria oft Synonymen wären? Ferner
publici mores ſind immer den boni mores entgegengeſezt; es läſt ſich
alſo eine Temperatur zwiſchen beiden nicht ſo leicht treffen. Non 25
populum in te vitae novitate convertas; tue ich das? und Seneka’s
non oder ne beweiſt ia nicht, daß man es nicht tun dürfe. „Iſt die
Schale verunſtaltet, ſo leidet auch der Kern“ ſagen Sie; aber warum
denn? Und ferner iſt ia noch erſt auszumachen, was an der Schale
Verunſtaltung iſt. Sie halten das am Diogenes für eine Verunſtal- 30
tung, was Rouſſeau, Wieland und der vortrefliche Verfaſſer der
Antoinette für eine Verſchönerung halten. Raubt dieſe ſogenante
Verunſtaltung dieſem groſſen Manne ſeine lebhafte Philoſophie, ſein
gutes Herz, ſeinen lerenden Wiz, ſeine Tugenden? Sie raubte ihm
nichts; aber ſie gab ihm Ruhe, Unabhängigkeit von fremden 35
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auf deren Bewuſtſein er die Beſtrafung iedes mächtigen Laſterhaften
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/116>, abgerufen am 21.11.2024.
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