Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite
3. Vorurtheile.

a) Lebensansichten.

"Die Kunst ist lang, das Leben kurz"
konnte noch Hippokrates sagen; jetzt ist die Kunst
schon weit länger, und das Leben noch weit
kürzer. Allerlei Schulen giebt's, fürs Leben ei¬
gentlich keine, als es selbst. Doch bleiben von
der Ansteckung der Verderbniß diejenigen am
Häufigsten frei, so die Jugend in dem reinen
Lebenskreise der Häuslichkeit vollbrachten. Jm¬
mer aber wird der Mensch ausgesteuert mit zu
vielen Verhaltungsregeln für das, was nur äu¬
ßerst selten vorkommt; darüber werden Beleh¬
rungen vergessen über das, was jedem Erden¬
sohn tagtäglich begegnen kann. So folgt auf
frühes Lossprechen von den Lehrjahren das
Durchschadengewitzigtwerden, und wohl dem
Menschen, dem es noch so gut wird. Zahlrei¬
cher sind die Unglücklichen, die in dem Beding¬
ten ihrer einzelnen Erfahrungen das Urwahre
gefunden zu haben meinen, und dann an dem
Menschen und der Menschheit verzweifeln. So

viel
3. Vorurtheile.

a) Lebensanſichten.

„Die Kunſt iſt lang, das Leben kurz“
konnte noch Hippokrates ſagen; jetzt iſt die Kunſt
ſchon weit länger, und das Leben noch weit
kürzer. Allerlei Schulen giebt's, fürs Leben ei¬
gentlich keine, als es ſelbſt. Doch bleiben von
der Anſteckung der Verderbniß diejenigen am
Häufigſten frei, ſo die Jugend in dem reinen
Lebenskreiſe der Häuslichkeit vollbrachten. Jm¬
mer aber wird der Menſch ausgeſteuert mit zu
vielen Verhaltungsregeln für das, was nur äu¬
ßerſt ſelten vorkommt; darüber werden Beleh¬
rungen vergeſſen über das, was jedem Erden¬
ſohn tagtäglich begegnen kann. So folgt auf
frühes Losſprechen von den Lehrjahren das
Durchſchadengewitzigtwerden, und wohl dem
Menſchen, dem es noch ſo gut wird. Zahlrei¬
cher ſind die Unglücklichen, die in dem Beding¬
ten ihrer einzelnen Erfahrungen das Urwahre
gefunden zu haben meinen, und dann an dem
Menſchen und der Menſchheit verzweifeln. So

viel
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0446" n="416"/>
          <fw type="pageNum" place="top">416<lb/></fw>
        </div>
        <div n="2">
          <head>3. <hi rendition="#g">Vorurtheile.</hi><lb/></head>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">a)</hi><hi rendition="#g">Lebensan&#x017F;ichten</hi>.</hi> </p><lb/>
          <p>&#x201E;Die Kun&#x017F;t i&#x017F;t lang, das Leben kurz&#x201C;<lb/>
konnte noch Hippokrates &#x017F;agen; jetzt i&#x017F;t die Kun&#x017F;t<lb/>
&#x017F;chon weit länger, und das Leben noch weit<lb/>
kürzer. Allerlei Schulen giebt's, fürs Leben ei¬<lb/>
gentlich keine, als es &#x017F;elb&#x017F;t. Doch bleiben von<lb/>
der An&#x017F;teckung der Verderbniß diejenigen am<lb/>
Häufig&#x017F;ten frei, &#x017F;o die Jugend in dem reinen<lb/>
Lebenskrei&#x017F;e der Häuslichkeit vollbrachten. Jm¬<lb/>
mer aber wird der Men&#x017F;ch ausge&#x017F;teuert mit zu<lb/>
vielen Verhaltungsregeln für das, was nur äu¬<lb/>
ßer&#x017F;t &#x017F;elten vorkommt; darüber werden Beleh¬<lb/>
rungen verge&#x017F;&#x017F;en über das, was jedem Erden¬<lb/>
&#x017F;ohn tagtäglich begegnen kann. So folgt auf<lb/>
frühes Los&#x017F;prechen von den Lehrjahren das<lb/>
Durch&#x017F;chadengewitzigtwerden, und wohl dem<lb/>
Men&#x017F;chen, dem es noch &#x017F;o gut wird. Zahlrei¬<lb/>
cher &#x017F;ind die Unglücklichen, die in dem Beding¬<lb/>
ten ihrer einzelnen Erfahrungen das Urwahre<lb/>
gefunden zu haben meinen, und dann an dem<lb/>
Men&#x017F;chen und der Men&#x017F;chheit verzweifeln. So<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">viel<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[416/0446] 416 3. Vorurtheile. a) Lebensanſichten. „Die Kunſt iſt lang, das Leben kurz“ konnte noch Hippokrates ſagen; jetzt iſt die Kunſt ſchon weit länger, und das Leben noch weit kürzer. Allerlei Schulen giebt's, fürs Leben ei¬ gentlich keine, als es ſelbſt. Doch bleiben von der Anſteckung der Verderbniß diejenigen am Häufigſten frei, ſo die Jugend in dem reinen Lebenskreiſe der Häuslichkeit vollbrachten. Jm¬ mer aber wird der Menſch ausgeſteuert mit zu vielen Verhaltungsregeln für das, was nur äu¬ ßerſt ſelten vorkommt; darüber werden Beleh¬ rungen vergeſſen über das, was jedem Erden¬ ſohn tagtäglich begegnen kann. So folgt auf frühes Losſprechen von den Lehrjahren das Durchſchadengewitzigtwerden, und wohl dem Menſchen, dem es noch ſo gut wird. Zahlrei¬ cher ſind die Unglücklichen, die in dem Beding¬ ten ihrer einzelnen Erfahrungen das Urwahre gefunden zu haben meinen, und dann an dem Menſchen und der Menſchheit verzweifeln. So viel

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/446
Zitationshilfe: Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/446>, abgerufen am 22.11.2024.