Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849.aber in vollkommenem Gleichgewicht miteinander brachten sie jene unwiderstehlich hinreissende Harmonie seines Wesens hervor. Dieses Verdienst sichert ihm nicht nur in seiner Wissenschaft den ehrenvollsten Platz, es weist ihm auch in der allgemeinen Entwickelungsgeschichte des deutschen Geistes eine eigenthümliche und bedeutende Stellung an. Seitdem Winckelmann von der bildenden Kunst aus eine geistige Auffassung des Alterthums eröffnete, haben die grössten und edelsten Geister unseres Volks aus dieser Quelle geschöpft und die Ausbildung unserer Litteratur steht in einem fortdauernden Wechselverhältniss zu der Erkenntniss des Alterthums. Hermann hat nicht, wie unsere grossen Schriftsteller, unmittelbar auf die Fortbildung der Litteratur eingewirkt, aber indem er die künstlerische Auffassung der Sprache, der Rhythmen, und dadurch der antiken Poesie, wie Winckelmann die der bildenden Kunst, erschloss, hat er mittelbar wesentlich zu dem grossen Bau unserer Litteratur mitgewirkt, und es ist ein glücklicher Gedanke, der ihm zwischen Lessing und Kant einen Platz anwies. Hermann fand die Behandlung der alten Sprachen als eine rein empirische vor. Die holländischen und englischen Philologen, durch Fleiss und Sorgfalt, zum Theil auch durch Scharfsinn ausgezeichnet, waren nicht über einzelne Beobachtungen hinausgekommen, aus denen man Regeln abstrahierte, welche mechanisch angewandt wurden und in schwierigen Fällen meistens im Stich liessen. Die deutsche Philologie konnte sich theils von der langen Abhängigkeit von der Theologie nicht ganz erholen, theils war sie, hauptsächlich durch Heyne's Einfluss, den sprachlichen Forschungen abgewandt. Hermann hatte gegen alles rein Empirische eine natürliche Abneigung und liess ein auf diesem Wege gewonnenes Resultat zwar gelten, aber ungern und fast mit Widerstreben; er selbst schenkte sich die Mühe der genauesten Beobachtung, der sorgfältigsten Erforschung des Einzelnen nie, aber er legte gar keinen Werth darauf, weil er das dadurch gewonnene factische Resultat nur als die Basis für die eigentlich allein wichtige Frage nach dem Grunde ansah; wenn diese gelöst war, war ihm der vorbereitende Apparat gleichgültig; was zum Zwecke nöthig war, theilte er mit, wo es erforderlich schien vollständig, übrigens hielt er sich alles fern, was Sammelei und Notizenkram war, und mit dem zu prunken, was nothwendige Vorbereitung der wissenschaftlichen Arbeit war, lag vollends nicht in seiner Art. Daher seine Schriften von der reichen Fülle, welche ehemals für das nothwendige Resultat gründlicher aber in vollkommenem Gleichgewicht miteinander brachten sie jene unwiderstehlich hinreissende Harmonie seines Wesens hervor. Dieses Verdienst sichert ihm nicht nur in seiner Wissenschaft den ehrenvollsten Platz, es weist ihm auch in der allgemeinen Entwickelungsgeschichte des deutschen Geistes eine eigenthümliche und bedeutende Stellung an. Seitdem Winckelmann von der bildenden Kunst aus eine geistige Auffassung des Alterthums eröffnete, haben die grössten und edelsten Geister unseres Volks aus dieser Quelle geschöpft und die Ausbildung unserer Litteratur steht in einem fortdauernden Wechselverhältniss zu der Erkenntniss des Alterthums. Hermann hat nicht, wie unsere grossen Schriftsteller, unmittelbar auf die Fortbildung der Litteratur eingewirkt, aber indem er die künstlerische Auffassung der Sprache, der Rhythmen, und dadurch der antiken Poesie, wie Winckelmann die der bildenden Kunst, erschloss, hat er mittelbar wesentlich zu dem grossen Bau unserer Litteratur mitgewirkt, und es ist ein glücklicher Gedanke, der ihm zwischen Lessing und Kant einen Platz anwies. Hermann fand die Behandlung der alten Sprachen als eine rein empirische vor. Die holländischen und englischen Philologen, durch Fleiss und Sorgfalt, zum Theil auch durch Scharfsinn ausgezeichnet, waren nicht über einzelne Beobachtungen hinausgekommen, aus denen man Regeln abstrahierte, welche mechanisch angewandt wurden und in schwierigen Fällen meistens im Stich liessen. Die deutsche Philologie konnte sich theils von der langen Abhängigkeit von der Theologie nicht ganz erholen, theils war sie, hauptsächlich durch Heyne’s Einfluss, den sprachlichen Forschungen abgewandt. Hermann hatte gegen alles rein Empirische eine natürliche Abneigung und liess ein auf diesem Wege gewonnenes Resultat zwar gelten, aber ungern und fast mit Widerstreben; er selbst schenkte sich die Mühe der genauesten Beobachtung, der sorgfältigsten Erforschung des Einzelnen nie, aber er legte gar keinen Werth darauf, weil er das dadurch gewonnene factische Resultat nur als die Basis für die eigentlich allein wichtige Frage nach dem Grunde ansah; wenn diese gelöst war, war ihm der vorbereitende Apparat gleichgültig; was zum Zwecke nöthig war, theilte er mit, wo es erforderlich schien vollständig, übrigens hielt er sich alles fern, was Sammelei und Notizenkram war, und mit dem zu prunken, was nothwendige Vorbereitung der wissenschaftlichen Arbeit war, lag vollends nicht in seiner Art. 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Hermann hat nicht, wie unsere grossen Schriftsteller, unmittelbar auf die Fortbildung der Litteratur eingewirkt, aber indem er die künstlerische Auffassung der Sprache, der Rhythmen, und dadurch der antiken Poesie, wie Winckelmann die der bildenden Kunst, erschloss, hat er mittelbar wesentlich zu dem grossen Bau unserer Litteratur mitgewirkt, und es ist ein glücklicher Gedanke, der ihm zwischen Lessing und Kant einen Platz anwies.</p> <p>Hermann fand die Behandlung der alten Sprachen als eine rein empirische vor. Die holländischen und englischen Philologen, durch Fleiss und Sorgfalt, zum Theil auch durch Scharfsinn ausgezeichnet, waren nicht über einzelne Beobachtungen hinausgekommen, aus denen man Regeln abstrahierte, welche mechanisch angewandt wurden und in schwierigen Fällen meistens im Stich liessen. Die deutsche Philologie konnte sich theils von der langen Abhängigkeit von der Theologie nicht ganz erholen, theils war sie, hauptsächlich durch Heyne’s Einfluss, den sprachlichen Forschungen abgewandt. Hermann hatte gegen alles rein Empirische eine natürliche Abneigung und liess ein auf diesem Wege gewonnenes Resultat zwar gelten, aber ungern und fast mit Widerstreben; er selbst schenkte sich die Mühe der genauesten Beobachtung, der sorgfältigsten Erforschung des Einzelnen nie, aber er legte gar keinen Werth darauf, weil er das dadurch gewonnene factische Resultat nur als die Basis für die eigentlich allein wichtige Frage nach dem Grunde ansah; wenn diese gelöst war, war ihm der vorbereitende Apparat gleichgültig; was zum Zwecke nöthig war, theilte er mit, wo es erforderlich schien vollständig, übrigens hielt er sich alles fern, was Sammelei und Notizenkram war, und mit dem zu prunken, was nothwendige Vorbereitung der wissenschaftlichen Arbeit war, lag vollends nicht in seiner Art. Daher seine Schriften von der reichen Fülle, welche ehemals für das nothwendige Resultat gründlicher </p> </div> </body> </text> </TEI> [13/0013]
aber in vollkommenem Gleichgewicht miteinander brachten sie jene unwiderstehlich hinreissende Harmonie seines Wesens hervor. Dieses Verdienst sichert ihm nicht nur in seiner Wissenschaft den ehrenvollsten Platz, es weist ihm auch in der allgemeinen Entwickelungsgeschichte des deutschen Geistes eine eigenthümliche und bedeutende Stellung an. Seitdem Winckelmann von der bildenden Kunst aus eine geistige Auffassung des Alterthums eröffnete, haben die grössten und edelsten Geister unseres Volks aus dieser Quelle geschöpft und die Ausbildung unserer Litteratur steht in einem fortdauernden Wechselverhältniss zu der Erkenntniss des Alterthums. Hermann hat nicht, wie unsere grossen Schriftsteller, unmittelbar auf die Fortbildung der Litteratur eingewirkt, aber indem er die künstlerische Auffassung der Sprache, der Rhythmen, und dadurch der antiken Poesie, wie Winckelmann die der bildenden Kunst, erschloss, hat er mittelbar wesentlich zu dem grossen Bau unserer Litteratur mitgewirkt, und es ist ein glücklicher Gedanke, der ihm zwischen Lessing und Kant einen Platz anwies.
Hermann fand die Behandlung der alten Sprachen als eine rein empirische vor. Die holländischen und englischen Philologen, durch Fleiss und Sorgfalt, zum Theil auch durch Scharfsinn ausgezeichnet, waren nicht über einzelne Beobachtungen hinausgekommen, aus denen man Regeln abstrahierte, welche mechanisch angewandt wurden und in schwierigen Fällen meistens im Stich liessen. Die deutsche Philologie konnte sich theils von der langen Abhängigkeit von der Theologie nicht ganz erholen, theils war sie, hauptsächlich durch Heyne’s Einfluss, den sprachlichen Forschungen abgewandt. Hermann hatte gegen alles rein Empirische eine natürliche Abneigung und liess ein auf diesem Wege gewonnenes Resultat zwar gelten, aber ungern und fast mit Widerstreben; er selbst schenkte sich die Mühe der genauesten Beobachtung, der sorgfältigsten Erforschung des Einzelnen nie, aber er legte gar keinen Werth darauf, weil er das dadurch gewonnene factische Resultat nur als die Basis für die eigentlich allein wichtige Frage nach dem Grunde ansah; wenn diese gelöst war, war ihm der vorbereitende Apparat gleichgültig; was zum Zwecke nöthig war, theilte er mit, wo es erforderlich schien vollständig, übrigens hielt er sich alles fern, was Sammelei und Notizenkram war, und mit dem zu prunken, was nothwendige Vorbereitung der wissenschaftlichen Arbeit war, lag vollends nicht in seiner Art. Daher seine Schriften von der reichen Fülle, welche ehemals für das nothwendige Resultat gründlicher
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Zitationshilfe: | Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_rede_1849/13>, abgerufen am 17.02.2025. |