Lehre unmöglich in der Schrift stehen, weil das Gegentheil davon in einer andern Of- fenbarung, welche älter als die Schrift, stünde, und diese wäre eben so gewiß und untrüglich, als die geschriebene Offenba- rung. Es wäre solche die natürliche Re- ligion und Erkänntniß Gottes, welche auch den blindesten Heiden durch rechten Ge- brauch des Lichtes der Vernunft geoffen- baret wäre. Weiter aber giebet er sich mit der Erklärung der Worte eines Pau- lus nicht ab. Setzet man aber diese Art zu schliessen zum Grunde, so hilfet uns die geschriebene Offenbarung nichts mehr, son- dern alles beziehet sich auf die Frage: stim- met eine Lehre mit der natürlichen Erkännt- niß des Menschen, die ein jeder für die ge- sunde Vernunft hält, überein oder nicht. Nach diesem Grundsatze wirft ein Soci- nianer und Dippelianer das Werk der Er- lösung aus der Schrift. Ein anderer be- hauptet, die Schrift könne unmöglich die Allgegenwart und Allwissenheit Gottes leh- ren, weil er glaubet, sie streite mit der natürlichen Religion und der gesunden Vernunft, wofür er und fast ein jeglicher seine eigene Einsichten erkläret. Jch habe zu viel Ehrerbietung gegen die geschriebe- ne Offenbarung, als daß ich sie auf eine so willkührliche Art erklären sollte. Kann ich eine Stelle nicht verstehen, ohne die Worte auf eine gezwungene Art auszule-
gen,
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Lehre unmoͤglich in der Schrift ſtehen, weil das Gegentheil davon in einer andern Of- fenbarung, welche aͤlter als die Schrift, ſtuͤnde, und dieſe waͤre eben ſo gewiß und untruͤglich, als die geſchriebene Offenba- rung. Es waͤre ſolche die natuͤrliche Re- ligion und Erkaͤnntniß Gottes, welche auch den blindeſten Heiden durch rechten Ge- brauch des Lichtes der Vernunft geoffen- baret waͤre. Weiter aber giebet er ſich mit der Erklaͤrung der Worte eines Pau- lus nicht ab. Setzet man aber dieſe Art zu ſchlieſſen zum Grunde, ſo hilfet uns die geſchriebene Offenbarung nichts mehr, ſon- dern alles beziehet ſich auf die Frage: ſtim- met eine Lehre mit der natuͤrlichen Erkaͤnnt- niß des Menſchen, die ein jeder fuͤr die ge- ſunde Vernunft haͤlt, uͤberein oder nicht. Nach dieſem Grundſatze wirft ein Soci- nianer und Dippelianer das Werk der Er- loͤſung aus der Schrift. Ein anderer be- hauptet, die Schrift koͤnne unmoͤglich die Allgegenwart und Allwiſſenheit Gottes leh- ren, weil er glaubet, ſie ſtreite mit der natuͤrlichen Religion und der geſunden Vernunft, wofuͤr er und faſt ein jeglicher ſeine eigene Einſichten erklaͤret. Jch habe zu viel Ehrerbietung gegen die geſchriebe- ne Offenbarung, als daß ich ſie auf eine ſo willkuͤhrliche Art erklaͤren ſollte. Kann ich eine Stelle nicht verſtehen, ohne die Worte auf eine gezwungene Art auszule-
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[181/0201]
Lehre unmoͤglich in der Schrift ſtehen, weil
das Gegentheil davon in einer andern Of-
fenbarung, welche aͤlter als die Schrift,
ſtuͤnde, und dieſe waͤre eben ſo gewiß und
untruͤglich, als die geſchriebene Offenba-
rung. Es waͤre ſolche die natuͤrliche Re-
ligion und Erkaͤnntniß Gottes, welche auch
den blindeſten Heiden durch rechten Ge-
brauch des Lichtes der Vernunft geoffen-
baret waͤre. Weiter aber giebet er ſich
mit der Erklaͤrung der Worte eines Pau-
lus nicht ab. Setzet man aber dieſe Art
zu ſchlieſſen zum Grunde, ſo hilfet uns die
geſchriebene Offenbarung nichts mehr, ſon-
dern alles beziehet ſich auf die Frage: ſtim-
met eine Lehre mit der natuͤrlichen Erkaͤnnt-
niß des Menſchen, die ein jeder fuͤr die ge-
ſunde Vernunft haͤlt, uͤberein oder nicht.
Nach dieſem Grundſatze wirft ein Soci-
nianer und Dippelianer das Werk der Er-
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hauptet, die Schrift koͤnne unmoͤglich die
Allgegenwart und Allwiſſenheit Gottes leh-
ren, weil er glaubet, ſie ſtreite mit der
natuͤrlichen Religion und der geſunden
Vernunft, wofuͤr er und faſt ein jeglicher
ſeine eigene Einſichten erklaͤret. Jch habe
zu viel Ehrerbietung gegen die geſchriebe-
ne Offenbarung, als daß ich ſie auf eine
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Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbarung antreffen. Bd. 4. Hannover, 1766, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen04_1766/201>, abgerufen am 27.11.2024.
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