sen könnten. Clerdon, der mich gestern be- suchte, glaubte in der Thüre geirrt zu haben, so fremd sah ihm mein Zimmer aus: was zu stehen gehört, stand; was zu liegen gehört, lag. In dergleichen Rücksichten ist mir eine solche neblichte Disposition zuweilen eine wahre Wohlthat: und je mehr ich der Sache nach- denke, desto heller leuchtet es mir ein, daß die Tugend der ächten Schul-Stadt- und Heer-Moral, welche die beliebte durchgän- gig gute Aufführung, das exempla- rische Leben hervorbringt, nichts anders als eine Art von Nebel ist, der alles leichtfertige Aussenwesen, als da sind Glanz, Farbe, Licht und Schatten, an den Gegenständen verhüllt, und nur das solide Unveränderliche an ihnen beäugen läßt.
Die merkwürdige Entwickelung meines Ro- mans mit Nannchen, worüber ich Dir eine eigene lange Epistel schreiben wollte? -- Höre, erst vor einer halben Stunde noch dachte ich Wunder, was ich Dir zu erzählen
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ſen koͤnnten. Clerdon, der mich geſtern be- ſuchte, glaubte in der Thuͤre geirrt zu haben, ſo fremd ſah ihm mein Zimmer aus: was zu ſtehen gehoͤrt, ſtand; was zu liegen gehoͤrt, lag. In dergleichen Ruͤckſichten iſt mir eine ſolche neblichte Diſpoſition zuweilen eine wahre Wohlthat: und je mehr ich der Sache nach- denke, deſto heller leuchtet es mir ein, daß die Tugend der aͤchten Schul-Stadt- und Heer-Moral, welche die beliebte durchgaͤn- gig gute Auffuͤhrung, das exempla- riſche Leben hervorbringt, nichts anders als eine Art von Nebel iſt, der alles leichtfertige Auſſenweſen, als da ſind Glanz, Farbe, Licht und Schatten, an den Gegenſtaͤnden verhuͤllt, und nur das ſolide Unveraͤnderliche an ihnen beaͤugen laͤßt.
Die merkwuͤrdige Entwickelung meines Ro- mans mit Nannchen, woruͤber ich Dir eine eigene lange Epiſtel ſchreiben wollte? — Hoͤre, erſt vor einer halben Stunde noch dachte ich Wunder, was ich Dir zu erzaͤhlen
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ſen koͤnnten. Clerdon, der mich geſtern be-
ſuchte, glaubte in der Thuͤre geirrt zu haben,
ſo fremd ſah ihm mein Zimmer aus: was zu
ſtehen gehoͤrt, ſtand; was zu liegen gehoͤrt,
lag. In dergleichen Ruͤckſichten iſt mir eine
ſolche neblichte Diſpoſition zuweilen eine wahre
Wohlthat: und je mehr ich der Sache nach-
denke, deſto heller leuchtet es mir ein, daß
die Tugend der aͤchten Schul-Stadt- und
Heer-Moral, welche die beliebte durchgaͤn-
gig gute Auffuͤhrung, das exempla-
riſche Leben hervorbringt, nichts anders als
eine Art von Nebel iſt, der alles leichtfertige
Auſſenweſen, als da ſind Glanz, Farbe, Licht
und Schatten, an den Gegenſtaͤnden verhuͤllt,
und nur das ſolide Unveraͤnderliche an ihnen
beaͤugen laͤßt.
Die merkwuͤrdige Entwickelung meines Ro-
mans mit Nannchen, woruͤber ich Dir eine
eigene lange Epiſtel ſchreiben wollte? —
Hoͤre, erſt vor einer halben Stunde noch
dachte ich Wunder, was ich Dir zu erzaͤhlen
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Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Königsberg, 1792, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_allwill_1792/109>, abgerufen am 23.11.2024.
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