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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839.

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beiden Herren hat ihn etwas matt gemacht. Kom-
men's nur herein!

Kaum den Boden mit ihren Fußsohlen berüh-
rend schritt Lisbeth durch das Krankenzimmer. Im
Lehnstuhle saß Oswald und schlief. Sein Antlitz
war so weiß wie Marmor, er sah vornehmer und
prächtiger aus als je. Die schöne Stirn zeigte
noch klarer als sonst die lichten, innigen Gedanken,
welche hinter ihrer Wölbung wohnten. Leicht ge-
röthet waren die vollen, gutmüthigen Lippen, und
um sie und um die reinen Wangen schwebte das
friedlichste Lächeln. Er träumte vielleicht, und
mochte wohl von seiner Liebe träumen. So saß
er da, ein reizendes, hohes Jünglingsbild; eine
Mischung von siegfreudigem Apoll und schwärmen-
dem gefühlstrunkenem Bacchus, noch nie so klar in
dieser seiner Grundform ausgeprägt, als heute,
wo die geschlossenen Wimpern allen Zügen etwas
Festes und Ewiges gaben.

Lisbeth näherte sich dem Schlafenden und beugte
sich über sein Haupt. Aber sie rührte ihn nicht
an und ließ kaum ihren Athem um seine Wangen
spielen, um ihn nicht aufzuwecken. Dann legte
sie leicht und leise wie eine beschenkende Himmels-

beiden Herren hat ihn etwas matt gemacht. Kom-
men’s nur herein!

Kaum den Boden mit ihren Fußſohlen berüh-
rend ſchritt Lisbeth durch das Krankenzimmer. Im
Lehnſtuhle ſaß Oswald und ſchlief. Sein Antlitz
war ſo weiß wie Marmor, er ſah vornehmer und
prächtiger aus als je. Die ſchöne Stirn zeigte
noch klarer als ſonſt die lichten, innigen Gedanken,
welche hinter ihrer Wölbung wohnten. Leicht ge-
röthet waren die vollen, gutmüthigen Lippen, und
um ſie und um die reinen Wangen ſchwebte das
friedlichſte Lächeln. Er träumte vielleicht, und
mochte wohl von ſeiner Liebe träumen. So ſaß
er da, ein reizendes, hohes Jünglingsbild; eine
Miſchung von ſiegfreudigem Apoll und ſchwärmen-
dem gefühlstrunkenem Bacchus, noch nie ſo klar in
dieſer ſeiner Grundform ausgeprägt, als heute,
wo die geſchloſſenen Wimpern allen Zügen etwas
Feſtes und Ewiges gaben.

Lisbeth näherte ſich dem Schlafenden und beugte
ſich über ſein Haupt. Aber ſie rührte ihn nicht
an und ließ kaum ihren Athem um ſeine Wangen
ſpielen, um ihn nicht aufzuwecken. Dann legte
ſie leicht und leiſe wie eine beſchenkende Himmels-

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[208/0220] beiden Herren hat ihn etwas matt gemacht. Kom- men’s nur herein! Kaum den Boden mit ihren Fußſohlen berüh- rend ſchritt Lisbeth durch das Krankenzimmer. Im Lehnſtuhle ſaß Oswald und ſchlief. Sein Antlitz war ſo weiß wie Marmor, er ſah vornehmer und prächtiger aus als je. Die ſchöne Stirn zeigte noch klarer als ſonſt die lichten, innigen Gedanken, welche hinter ihrer Wölbung wohnten. Leicht ge- röthet waren die vollen, gutmüthigen Lippen, und um ſie und um die reinen Wangen ſchwebte das friedlichſte Lächeln. Er träumte vielleicht, und mochte wohl von ſeiner Liebe träumen. So ſaß er da, ein reizendes, hohes Jünglingsbild; eine Miſchung von ſiegfreudigem Apoll und ſchwärmen- dem gefühlstrunkenem Bacchus, noch nie ſo klar in dieſer ſeiner Grundform ausgeprägt, als heute, wo die geſchloſſenen Wimpern allen Zügen etwas Feſtes und Ewiges gaben. Lisbeth näherte ſich dem Schlafenden und beugte ſich über ſein Haupt. Aber ſie rührte ihn nicht an und ließ kaum ihren Athem um ſeine Wangen ſpielen, um ihn nicht aufzuwecken. Dann legte ſie leicht und leiſe wie eine beſchenkende Himmels-

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/220>, abgerufen am 27.11.2024.