hatte, und meinte, das Mädchen habe nur in einem Anstoß, der rasch verflogen sei, sich in seinen Arm gelegt. Es war das Unglaublichste, was es nur geben konnte, aber er hätte nicht geliebt, wenn er gezweifelt hätte. -- Liebe ist so feige, daß sie vor ihrem eigenen Schatten erschrickt; Liebe ist blind in der Wahl, noch blinder in der Qual.
Er stellte sich an die Thüre des Zimmers und rief mit sanfter Stimme über den Gang: Lisbeth! -- Sie hörte ihn wohl, aber sie antwortete ihm nicht, denn sie war entschlossen, lieber zu verhun- gern und zu verdursten, als sich zu zeigen, so lange er im Oberhofe sei. Fest hielt sie ihre Hand auf die Lippen gedrückt und wimmerte leise wie ein blutendes Kind, daß sie nicht hinaus und an seine Brust fliegen dürfe. -- Er suchte in mehreren Gemächern nach ihr, aber das übersah er, worin sie sich befand. Nun ging er nach dem Zimmer und sah die Goldrolle und das grüne Särglein abermals an, und wollte das Särglein zu sich stecken, denn was ging ihn das Gold an? aber er nahm die Rolle und ließ das Särglein liegen, so verwirrt waren seine Gedanken. Die Blumen riß er aus dem Glase und warf sie heftig zu Boden,
hatte, und meinte, das Mädchen habe nur in einem Anſtoß, der raſch verflogen ſei, ſich in ſeinen Arm gelegt. Es war das Unglaublichſte, was es nur geben konnte, aber er hätte nicht geliebt, wenn er gezweifelt hätte. — Liebe iſt ſo feige, daß ſie vor ihrem eigenen Schatten erſchrickt; Liebe iſt blind in der Wahl, noch blinder in der Qual.
Er ſtellte ſich an die Thüre des Zimmers und rief mit ſanfter Stimme über den Gang: Lisbeth! — Sie hörte ihn wohl, aber ſie antwortete ihm nicht, denn ſie war entſchloſſen, lieber zu verhun- gern und zu verdurſten, als ſich zu zeigen, ſo lange er im Oberhofe ſei. Feſt hielt ſie ihre Hand auf die Lippen gedrückt und wimmerte leiſe wie ein blutendes Kind, daß ſie nicht hinaus und an ſeine Bruſt fliegen dürfe. — Er ſuchte in mehreren Gemächern nach ihr, aber das überſah er, worin ſie ſich befand. Nun ging er nach dem Zimmer und ſah die Goldrolle und das grüne Särglein abermals an, und wollte das Särglein zu ſich ſtecken, denn was ging ihn das Gold an? aber er nahm die Rolle und ließ das Särglein liegen, ſo verwirrt waren ſeine Gedanken. Die Blumen riß er aus dem Glaſe und warf ſie heftig zu Boden,
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hatte, und meinte, das Mädchen habe nur in
einem Anſtoß, der raſch verflogen ſei, ſich in ſeinen
Arm gelegt. Es war das Unglaublichſte, was es
nur geben konnte, aber er hätte nicht geliebt,
wenn er gezweifelt hätte. — Liebe iſt ſo feige, daß
ſie vor ihrem eigenen Schatten erſchrickt; Liebe iſt
blind in der Wahl, noch blinder in der Qual.
Er ſtellte ſich an die Thüre des Zimmers und
rief mit ſanfter Stimme über den Gang: Lisbeth!
— Sie hörte ihn wohl, aber ſie antwortete ihm
nicht, denn ſie war entſchloſſen, lieber zu verhun-
gern und zu verdurſten, als ſich zu zeigen, ſo lange
er im Oberhofe ſei. Feſt hielt ſie ihre Hand auf
die Lippen gedrückt und wimmerte leiſe wie ein
blutendes Kind, daß ſie nicht hinaus und an ſeine
Bruſt fliegen dürfe. — Er ſuchte in mehreren
Gemächern nach ihr, aber das überſah er, worin
ſie ſich befand. Nun ging er nach dem Zimmer
und ſah die Goldrolle und das grüne Särglein
abermals an, und wollte das Särglein zu ſich
ſtecken, denn was ging ihn das Gold an? aber er
nahm die Rolle und ließ das Särglein liegen, ſo
verwirrt waren ſeine Gedanken. Die Blumen riß
er aus dem Glaſe und warf ſie heftig zu Boden,
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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/102>, abgerufen am 22.11.2024.
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