Freiheit des Individuums, in diesem Stande fließt einzig der Strom der Selbstbestimmung nach Charak- ter, Talent, Laune und Willkühr. Der Bauer denkt, handelt, empfindet standesmäßig und hergebrachter Weise. Die Abstufungen werden in den Dorfern wenigstens eben so fest gehalten als in den Schlös- sern und Pallästen. Ich unterstehe mich, Ihnen zu versichern, daß dieser Hofschulze auf den Colonen mit demselben Stolze hinuntersieht, wie nur der reichste Majoratsherr auf den Briefadel von ge- stern blicken kann. Ich wollte es keinem Burschen aus einem kleinen Hofe rathen, um die Tochter aus einem Oberhofe zu freien. Dieselben Ver- wickelungen würden entstehen, als in dem Falle, wenn ein Kaufmannsdiener zu einer Erbgräfin emporblickt. Gerade hier -- vom Oberhofe -- geht eine alte halbverklungene Sage umher, die den schauderhaften Ausgang einer solchen mißge- gewandten Neigung meldet. Durch meinen nahen Verkehr mit diesen Leuten hat sich die Ansicht bei mir festgestellt, duß der Bauernstand nur einen zweiten ihm ähnlichen hat, den sogenannten alten oder hohen Adel, wo ein solcher nämlich noch wahrhaft besteht. Der Mittelstand ist eine von Bei-
Freiheit des Individuums, in dieſem Stande fließt einzig der Strom der Selbſtbeſtimmung nach Charak- ter, Talent, Laune und Willkühr. Der Bauer denkt, handelt, empfindet ſtandesmäßig und hergebrachter Weiſe. Die Abſtufungen werden in den Dorfern wenigſtens eben ſo feſt gehalten als in den Schlöſ- ſern und Palläſten. Ich unterſtehe mich, Ihnen zu verſichern, daß dieſer Hofſchulze auf den Colonen mit demſelben Stolze hinunterſieht, wie nur der reichſte Majoratsherr auf den Briefadel von ge- ſtern blicken kann. Ich wollte es keinem Burſchen aus einem kleinen Hofe rathen, um die Tochter aus einem Oberhofe zu freien. Dieſelben Ver- wickelungen würden entſtehen, als in dem Falle, wenn ein Kaufmannsdiener zu einer Erbgräfin emporblickt. Gerade hier — vom Oberhofe — geht eine alte halbverklungene Sage umher, die den ſchauderhaften Ausgang einer ſolchen mißge- gewandten Neigung meldet. Durch meinen nahen Verkehr mit dieſen Leuten hat ſich die Anſicht bei mir feſtgeſtellt, duß der Bauernſtand nur einen zweiten ihm ähnlichen hat, den ſogenannten alten oder hohen Adel, wo ein ſolcher nämlich noch wahrhaft beſteht. Der Mittelſtand iſt eine von Bei-
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Freiheit des Individuums, in dieſem Stande fließt
einzig der Strom der Selbſtbeſtimmung nach Charak-
ter, Talent, Laune und Willkühr. Der Bauer denkt,
handelt, empfindet ſtandesmäßig und hergebrachter
Weiſe. Die Abſtufungen werden in den Dorfern
wenigſtens eben ſo feſt gehalten als in den Schlöſ-
ſern und Palläſten. Ich unterſtehe mich, Ihnen
zu verſichern, daß dieſer Hofſchulze auf den Colonen
mit demſelben Stolze hinunterſieht, wie nur der
reichſte Majoratsherr auf den Briefadel von ge-
ſtern blicken kann. Ich wollte es keinem Burſchen
aus einem kleinen Hofe rathen, um die Tochter
aus einem Oberhofe zu freien. Dieſelben Ver-
wickelungen würden entſtehen, als in dem Falle,
wenn ein Kaufmannsdiener zu einer Erbgräfin
emporblickt. Gerade hier — vom Oberhofe —
geht eine alte halbverklungene Sage umher, die
den ſchauderhaften Ausgang einer ſolchen mißge-
gewandten Neigung meldet. Durch meinen nahen
Verkehr mit dieſen Leuten hat ſich die Anſicht bei
mir feſtgeſtellt, duß der Bauernſtand nur einen
zweiten ihm ähnlichen hat, den ſogenannten alten
oder hohen Adel, wo ein ſolcher nämlich noch
wahrhaft beſteht. Der Mittelſtand iſt eine von Bei-
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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/124>, abgerufen am 22.11.2024.
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