Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.alten krummen Sackgasse, in einem beräucherten Pergamente zu verehren? Und mit seinen Krystallisationen, seinem Ackerdufte, seinen Erstgeburten und seinem Zunftzwange merkt er nicht, daß er in die allergrausamsten Widersprüche geräth. Er predigt das Evangelium des Bestehenden und will Alles umstürzen, was grade jetzt denn doch so halb und halb schon besteht. Er, der Absolute -- ist der entsetzlichste Revolutionair, den man sich denken kann. Wir wollen die Maschine doch nur etwas rascher vorwärtsschrauben, er aber will sie zurückschrauben, worüber denn natürlich das ganze Werk mit Federn und Rädern zerbrechen muß. -- Ich denke, mein weiser Freund, du wirst mir die Feigheit meines Bleistifts nicht wieder vorwerfen! Auf diese mit großem Triumph geschlossene Rede entgegnete Ernst durch einen Blick, in dem sich ein unbeschreiblicher Zorn aussprach. Er kratzte an seiner Schläfe, er bewegte die Lippen und rang vergebens nach Worten. Ich befürchtete eine verdrießliche Scene und suchte den Sturm durch einen Scherz zu beschwören. Die Juden werden deine Schöpfungen nicht aufkommen lassen, lieber Ernst, sagte ich zu dem ergrimmten Freunde. Du weißt, sie besitzen das Geld und haben die Hypotheken auf Bauer- und Rittergüter, die Hypothek ist aber bekanntlich eine geschworne Feindin aller Unveräußerlichkeit. -- Ernst hatte sich gefunden, blickte das Bild des Erlösers auf seiner Dose an, nahm eine noch größere Prise alten krummen Sackgasse, in einem beräucherten Pergamente zu verehren? Und mit seinen Krystallisationen, seinem Ackerdufte, seinen Erstgeburten und seinem Zunftzwange merkt er nicht, daß er in die allergrausamsten Widersprüche geräth. Er predigt das Evangelium des Bestehenden und will Alles umstürzen, was grade jetzt denn doch so halb und halb schon besteht. Er, der Absolute — ist der entsetzlichste Revolutionair, den man sich denken kann. Wir wollen die Maschine doch nur etwas rascher vorwärtsschrauben, er aber will sie zurückschrauben, worüber denn natürlich das ganze Werk mit Federn und Rädern zerbrechen muß. — Ich denke, mein weiser Freund, du wirst mir die Feigheit meines Bleistifts nicht wieder vorwerfen! Auf diese mit großem Triumph geschlossene Rede entgegnete Ernst durch einen Blick, in dem sich ein unbeschreiblicher Zorn aussprach. Er kratzte an seiner Schläfe, er bewegte die Lippen und rang vergebens nach Worten. Ich befürchtete eine verdrießliche Scene und suchte den Sturm durch einen Scherz zu beschwören. Die Juden werden deine Schöpfungen nicht aufkommen lassen, lieber Ernst, sagte ich zu dem ergrimmten Freunde. Du weißt, sie besitzen das Geld und haben die Hypotheken auf Bauer- und Rittergüter, die Hypothek ist aber bekanntlich eine geschworne Feindin aller Unveräußerlichkeit. — Ernst hatte sich gefunden, blickte das Bild des Erlösers auf seiner Dose an, nahm eine noch größere Prise <TEI> <text> <body> <div n="12"> <p><pb facs="#f0064"/> alten krummen Sackgasse, in einem beräucherten Pergamente zu verehren? Und mit seinen Krystallisationen, seinem Ackerdufte, seinen Erstgeburten und seinem Zunftzwange merkt er nicht, daß er in die allergrausamsten Widersprüche geräth. Er predigt das Evangelium des Bestehenden und will Alles umstürzen, was grade jetzt denn doch so halb und halb schon besteht. Er, der Absolute — ist der entsetzlichste Revolutionair, den man sich denken kann. Wir wollen die Maschine doch nur etwas rascher vorwärtsschrauben, er aber will sie zurückschrauben, worüber denn natürlich das ganze Werk mit Federn und Rädern zerbrechen muß. — Ich denke, mein weiser Freund, du wirst mir die Feigheit meines Bleistifts nicht wieder vorwerfen!</p><lb/> <p>Auf diese mit großem Triumph geschlossene Rede entgegnete Ernst durch einen Blick, in dem sich ein unbeschreiblicher Zorn aussprach. Er kratzte an seiner Schläfe, er bewegte die Lippen und rang vergebens nach Worten. Ich befürchtete eine verdrießliche Scene und suchte den Sturm durch einen Scherz zu beschwören. Die Juden werden deine Schöpfungen nicht aufkommen lassen, lieber Ernst, sagte ich zu dem ergrimmten Freunde. Du weißt, sie besitzen das Geld und haben die Hypotheken auf Bauer- und Rittergüter, die Hypothek ist aber bekanntlich eine geschworne Feindin aller Unveräußerlichkeit. —</p><lb/> <p>Ernst hatte sich gefunden, blickte das Bild des Erlösers auf seiner Dose an, nahm eine noch größere Prise<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0064]
alten krummen Sackgasse, in einem beräucherten Pergamente zu verehren? Und mit seinen Krystallisationen, seinem Ackerdufte, seinen Erstgeburten und seinem Zunftzwange merkt er nicht, daß er in die allergrausamsten Widersprüche geräth. Er predigt das Evangelium des Bestehenden und will Alles umstürzen, was grade jetzt denn doch so halb und halb schon besteht. Er, der Absolute — ist der entsetzlichste Revolutionair, den man sich denken kann. Wir wollen die Maschine doch nur etwas rascher vorwärtsschrauben, er aber will sie zurückschrauben, worüber denn natürlich das ganze Werk mit Federn und Rädern zerbrechen muß. — Ich denke, mein weiser Freund, du wirst mir die Feigheit meines Bleistifts nicht wieder vorwerfen!
Auf diese mit großem Triumph geschlossene Rede entgegnete Ernst durch einen Blick, in dem sich ein unbeschreiblicher Zorn aussprach. Er kratzte an seiner Schläfe, er bewegte die Lippen und rang vergebens nach Worten. Ich befürchtete eine verdrießliche Scene und suchte den Sturm durch einen Scherz zu beschwören. Die Juden werden deine Schöpfungen nicht aufkommen lassen, lieber Ernst, sagte ich zu dem ergrimmten Freunde. Du weißt, sie besitzen das Geld und haben die Hypotheken auf Bauer- und Rittergüter, die Hypothek ist aber bekanntlich eine geschworne Feindin aller Unveräußerlichkeit. —
Ernst hatte sich gefunden, blickte das Bild des Erlösers auf seiner Dose an, nahm eine noch größere Prise
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Zitationshilfe: | Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/64>, abgerufen am 16.02.2025. |