Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.aus Vorsicht nach Ihrem Gelde, ich habe ebenfalls heute etwas vermißt. Ich darf die Gräfin nicht verlassen, sonst käme ich selbst zu Ihnen. -- Haben Sie einen Wallnußbaum an Ihrem Hause? fragte ich den Wirth. -- Ja wohl. -- Führen Sie mich sogleich hin! -- Wir gingen durch den Hof in einen Baumgarten, der an das Hintergebäude stieß. Ein großer prächtiger Nußbaum breitete fast dicht an der Wandseite seine schattenden Zweige aus. Da liegt wahrhaftig etwas! rief der Wirth. Ich flog auf den Baum zu. Das Unglaubliche war wirklich, am Fuße des Stamms lag meine Cassette. Ich hob sie auf, aber die Freude, sie wiederzubesitzen, war kurz. Der Dieb hatte sie erbrochen, das Schlößchen hing kläglich am letzten Nagel, meine goldne Hoffnung war aufgeflogen, ich hielt das Kästchen leer, wie Pandorens Büchse, in der Hand. Ich machte ein betrübtes und, wie ich glaube, einfältiges Gesicht. Ein Specht erhob von dem Wipfel des Baums sein Gelächter, das Thier schien mich zu verhöhnen. Von der andern Seite rief der Kukuk. Ja, wohin sollte ich gucken, um meinen Dieb zu erspähn? Ich blickte empor, da sah ich nichts, als die Fenster des Hintergebäudes. Der alberne Wirth erschöpfte sich, wie das bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, in den ungereimtesten Vermuthungen über die Art und Weise, wie die Schatulle in den Baumgarten geschafft sei. Ueber den Hof, meinte er, könne der Dieb nicht gegangen sein, er habe sich den ganzen Morgen über in der Packkammer auf- aus Vorsicht nach Ihrem Gelde, ich habe ebenfalls heute etwas vermißt. Ich darf die Gräfin nicht verlassen, sonst käme ich selbst zu Ihnen. — Haben Sie einen Wallnußbaum an Ihrem Hause? fragte ich den Wirth. — Ja wohl. — Führen Sie mich sogleich hin! — Wir gingen durch den Hof in einen Baumgarten, der an das Hintergebäude stieß. Ein großer prächtiger Nußbaum breitete fast dicht an der Wandseite seine schattenden Zweige aus. Da liegt wahrhaftig etwas! rief der Wirth. Ich flog auf den Baum zu. Das Unglaubliche war wirklich, am Fuße des Stamms lag meine Cassette. Ich hob sie auf, aber die Freude, sie wiederzubesitzen, war kurz. Der Dieb hatte sie erbrochen, das Schlößchen hing kläglich am letzten Nagel, meine goldne Hoffnung war aufgeflogen, ich hielt das Kästchen leer, wie Pandorens Büchse, in der Hand. Ich machte ein betrübtes und, wie ich glaube, einfältiges Gesicht. Ein Specht erhob von dem Wipfel des Baums sein Gelächter, das Thier schien mich zu verhöhnen. Von der andern Seite rief der Kukuk. Ja, wohin sollte ich gucken, um meinen Dieb zu erspähn? Ich blickte empor, da sah ich nichts, als die Fenster des Hintergebäudes. Der alberne Wirth erschöpfte sich, wie das bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, in den ungereimtesten Vermuthungen über die Art und Weise, wie die Schatulle in den Baumgarten geschafft sei. Ueber den Hof, meinte er, könne der Dieb nicht gegangen sein, er habe sich den ganzen Morgen über in der Packkammer auf- <TEI> <text> <body> <div n="6"> <p><pb facs="#f0040"/> aus Vorsicht nach Ihrem Gelde, ich habe ebenfalls heute etwas vermißt. Ich darf die Gräfin nicht verlassen, sonst käme ich selbst zu Ihnen. — Haben Sie einen Wallnußbaum an Ihrem Hause? fragte ich den Wirth.</p><lb/> <p> — Ja wohl. — Führen Sie mich sogleich hin! —</p><lb/> <p>Wir gingen durch den Hof in einen Baumgarten, der an das Hintergebäude stieß. Ein großer prächtiger Nußbaum breitete fast dicht an der Wandseite seine schattenden Zweige aus. Da liegt wahrhaftig etwas! rief der Wirth. Ich flog auf den Baum zu. Das Unglaubliche war wirklich, am Fuße des Stamms lag meine Cassette. Ich hob sie auf, aber die Freude, sie wiederzubesitzen, war kurz. Der Dieb hatte sie erbrochen, das Schlößchen hing kläglich am letzten Nagel, meine goldne Hoffnung war aufgeflogen, ich hielt das Kästchen leer, wie Pandorens Büchse, in der Hand. Ich machte ein betrübtes und, wie ich glaube, einfältiges Gesicht. Ein Specht erhob von dem Wipfel des Baums sein Gelächter, das Thier schien mich zu verhöhnen. Von der andern Seite rief der Kukuk. Ja, wohin sollte ich gucken, um meinen Dieb zu erspähn? Ich blickte empor, da sah ich nichts, als die Fenster des Hintergebäudes. Der alberne Wirth erschöpfte sich, wie das bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, in den ungereimtesten Vermuthungen über die Art und Weise, wie die Schatulle in den Baumgarten geschafft sei. Ueber den Hof, meinte er, könne der Dieb nicht gegangen sein, er habe sich den ganzen Morgen über in der Packkammer auf-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0040]
aus Vorsicht nach Ihrem Gelde, ich habe ebenfalls heute etwas vermißt. Ich darf die Gräfin nicht verlassen, sonst käme ich selbst zu Ihnen. — Haben Sie einen Wallnußbaum an Ihrem Hause? fragte ich den Wirth.
— Ja wohl. — Führen Sie mich sogleich hin! —
Wir gingen durch den Hof in einen Baumgarten, der an das Hintergebäude stieß. Ein großer prächtiger Nußbaum breitete fast dicht an der Wandseite seine schattenden Zweige aus. Da liegt wahrhaftig etwas! rief der Wirth. Ich flog auf den Baum zu. Das Unglaubliche war wirklich, am Fuße des Stamms lag meine Cassette. Ich hob sie auf, aber die Freude, sie wiederzubesitzen, war kurz. Der Dieb hatte sie erbrochen, das Schlößchen hing kläglich am letzten Nagel, meine goldne Hoffnung war aufgeflogen, ich hielt das Kästchen leer, wie Pandorens Büchse, in der Hand. Ich machte ein betrübtes und, wie ich glaube, einfältiges Gesicht. Ein Specht erhob von dem Wipfel des Baums sein Gelächter, das Thier schien mich zu verhöhnen. Von der andern Seite rief der Kukuk. Ja, wohin sollte ich gucken, um meinen Dieb zu erspähn? Ich blickte empor, da sah ich nichts, als die Fenster des Hintergebäudes. Der alberne Wirth erschöpfte sich, wie das bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, in den ungereimtesten Vermuthungen über die Art und Weise, wie die Schatulle in den Baumgarten geschafft sei. Ueber den Hof, meinte er, könne der Dieb nicht gegangen sein, er habe sich den ganzen Morgen über in der Packkammer auf-
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Zitationshilfe: | Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/40>, abgerufen am 16.02.2025. |