Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.stellt sein. Sie sehen nicht aus, wie eine Kranke, indessen giebt es freilich geheime Schmerzen, die kein Dritter wahrnimmt. Also -- fügte ich lächelnd hinzu -- auf baldige Besserung! Die Dame empfing den Trunk sonderbar bewegt, wie es schien, von meinen unbedeutenden Worten und sprach halb in sich hinein: Ja! Auf baldige Besserung; auf augenblickliche! leerte das Glas und schritt zu ihrem Thiere. Ihr Begleiter machte mir, ohne ein Wort zu sagen, eine höfliche leichte Verbeugung, hob die Schöne in den Sitz, schwang sich selbst auf. Die Treiber klatschten, und der Zug schwankte den Steg hinunter, auf dem er gekommen war. Man darf sich wohl etwas wundern, wenn ein Frauenzimmer schroffe Felsen besteigt, bloß um sich von einem Fremden ein Glas Wasser schöpfen zu lassen. Ich fragte meinen Jungen, ob er die Dame kenne. Er versetzte, sie sei eine polnische Gräfin, den Namen könne er nicht aussprechen, sie spricht im Schlaf, fügte er hinzu, sieht, was auf zehn Meilen in der Runde geschieht, und lies't Briefe mit zugemachten Augen. Es ist die neumodige Krankheit; der Herr bei ihr ist der Doctor, der ihr die Hand auflegt. -- Also die Somnambüle und ihr Magnetiseur! rief ich aus. In diesem Augenblicke wurde ihre Gestalt an einer Beugung des Felsenpfades mir wieder sichtbar. Sie hielt ihr Tuch vor den Augen. Gespannt auf die Entwicklung dieses Abenteuers ritt ich heim. stellt sein. Sie sehen nicht aus, wie eine Kranke, indessen giebt es freilich geheime Schmerzen, die kein Dritter wahrnimmt. Also — fügte ich lächelnd hinzu — auf baldige Besserung! Die Dame empfing den Trunk sonderbar bewegt, wie es schien, von meinen unbedeutenden Worten und sprach halb in sich hinein: Ja! Auf baldige Besserung; auf augenblickliche! leerte das Glas und schritt zu ihrem Thiere. Ihr Begleiter machte mir, ohne ein Wort zu sagen, eine höfliche leichte Verbeugung, hob die Schöne in den Sitz, schwang sich selbst auf. Die Treiber klatschten, und der Zug schwankte den Steg hinunter, auf dem er gekommen war. Man darf sich wohl etwas wundern, wenn ein Frauenzimmer schroffe Felsen besteigt, bloß um sich von einem Fremden ein Glas Wasser schöpfen zu lassen. Ich fragte meinen Jungen, ob er die Dame kenne. Er versetzte, sie sei eine polnische Gräfin, den Namen könne er nicht aussprechen, sie spricht im Schlaf, fügte er hinzu, sieht, was auf zehn Meilen in der Runde geschieht, und lies't Briefe mit zugemachten Augen. Es ist die neumodige Krankheit; der Herr bei ihr ist der Doctor, der ihr die Hand auflegt. — Also die Somnambüle und ihr Magnetiseur! rief ich aus. In diesem Augenblicke wurde ihre Gestalt an einer Beugung des Felsenpfades mir wieder sichtbar. Sie hielt ihr Tuch vor den Augen. Gespannt auf die Entwicklung dieses Abenteuers ritt ich heim. <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0022"/> stellt sein. Sie sehen nicht aus, wie eine Kranke, indessen giebt es freilich geheime Schmerzen, die kein Dritter wahrnimmt. Also — fügte ich lächelnd hinzu — auf baldige Besserung! Die Dame empfing den Trunk sonderbar bewegt, wie es schien, von meinen unbedeutenden Worten und sprach halb in sich hinein: Ja! Auf baldige Besserung; auf augenblickliche! leerte das Glas und schritt zu ihrem Thiere. Ihr Begleiter machte mir, ohne ein Wort zu sagen, eine höfliche leichte Verbeugung, hob die Schöne in den Sitz, schwang sich selbst auf. Die Treiber klatschten, und der Zug schwankte den Steg hinunter, auf dem er gekommen war.</p><lb/> <p>Man darf sich wohl etwas wundern, wenn ein Frauenzimmer schroffe Felsen besteigt, bloß um sich von einem Fremden ein Glas Wasser schöpfen zu lassen. Ich fragte meinen Jungen, ob er die Dame kenne. Er versetzte, sie sei eine polnische Gräfin, den Namen könne er nicht aussprechen, sie spricht im Schlaf, fügte er hinzu, sieht, was auf zehn Meilen in der Runde geschieht, und lies't Briefe mit zugemachten Augen. Es ist die neumodige Krankheit; der Herr bei ihr ist der Doctor, der ihr die Hand auflegt. — Also die Somnambüle und ihr Magnetiseur! rief ich aus. In diesem Augenblicke wurde ihre Gestalt an einer Beugung des Felsenpfades mir wieder sichtbar. Sie hielt ihr Tuch vor den Augen. Gespannt auf die Entwicklung dieses Abenteuers ritt ich heim.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
stellt sein. Sie sehen nicht aus, wie eine Kranke, indessen giebt es freilich geheime Schmerzen, die kein Dritter wahrnimmt. Also — fügte ich lächelnd hinzu — auf baldige Besserung! Die Dame empfing den Trunk sonderbar bewegt, wie es schien, von meinen unbedeutenden Worten und sprach halb in sich hinein: Ja! Auf baldige Besserung; auf augenblickliche! leerte das Glas und schritt zu ihrem Thiere. Ihr Begleiter machte mir, ohne ein Wort zu sagen, eine höfliche leichte Verbeugung, hob die Schöne in den Sitz, schwang sich selbst auf. Die Treiber klatschten, und der Zug schwankte den Steg hinunter, auf dem er gekommen war.
Man darf sich wohl etwas wundern, wenn ein Frauenzimmer schroffe Felsen besteigt, bloß um sich von einem Fremden ein Glas Wasser schöpfen zu lassen. Ich fragte meinen Jungen, ob er die Dame kenne. Er versetzte, sie sei eine polnische Gräfin, den Namen könne er nicht aussprechen, sie spricht im Schlaf, fügte er hinzu, sieht, was auf zehn Meilen in der Runde geschieht, und lies't Briefe mit zugemachten Augen. Es ist die neumodige Krankheit; der Herr bei ihr ist der Doctor, der ihr die Hand auflegt. — Also die Somnambüle und ihr Magnetiseur! rief ich aus. In diesem Augenblicke wurde ihre Gestalt an einer Beugung des Felsenpfades mir wieder sichtbar. Sie hielt ihr Tuch vor den Augen. Gespannt auf die Entwicklung dieses Abenteuers ritt ich heim.
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Zitationshilfe: | Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/22>, abgerufen am 16.02.2025. |