Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Nachschrift des Herausgebers. Mit jenen andeutenden Worten schließen die Hefte, welche uns vorliegen. Ein schweres häusliches Unglück traf unsern Freund nach Jahresfrist seit dem Besuche des Kölnischen Karnevals. Wir sind im Besitze der Geschichte jenes Zwischenraumes und haben leider die Folgen eines Scherzes zu berichten, welche ernsthafter wurden, als die des Schwankens von Tugend und Großmuth, den sich die schelmische Gräfin mit ihrem Eheherrn erlaubte. Denn freilich hatte Adolphine -- so nennen wir die Gattin unsers Freundes -- die Wirkungen nicht berechnet, als sie in ihrem Manne das Bild der unglücklichen Sidonie erneuerte; die Wirkungen, welche ein so unbedachtes Unternehmen hervorbringen mußte und hervorbrachte. Damit man ihr Verfahren nicht gar zu unweiblich finde, müssen wir zur Entschuldigung anführen, daß ihr Gefühl, ihr Dasein überhaupt gestört und aus den Schranken gerückt war, innerhalb welcher der Charakter einer Frau sich nur mit Anmuth und Schönheit darstellen kann. Der Oheim, welcher sie erzogen, Vaters Rechte über sie geübt hatte, war eine Art von geistigem Epicuräer; die Abwechselung der Genüsse bedeutete ihm erst den Genuß, Reisen allein hielt er für Leben. Das muntre, schöne Kind führte er überall mit umher, eine leichte Sorge, die Zugabe eines herzlichen Verhält- Nachschrift des Herausgebers. Mit jenen andeutenden Worten schließen die Hefte, welche uns vorliegen. Ein schweres häusliches Unglück traf unsern Freund nach Jahresfrist seit dem Besuche des Kölnischen Karnevals. Wir sind im Besitze der Geschichte jenes Zwischenraumes und haben leider die Folgen eines Scherzes zu berichten, welche ernsthafter wurden, als die des Schwankens von Tugend und Großmuth, den sich die schelmische Gräfin mit ihrem Eheherrn erlaubte. Denn freilich hatte Adolphine — so nennen wir die Gattin unsers Freundes — die Wirkungen nicht berechnet, als sie in ihrem Manne das Bild der unglücklichen Sidonie erneuerte; die Wirkungen, welche ein so unbedachtes Unternehmen hervorbringen mußte und hervorbrachte. Damit man ihr Verfahren nicht gar zu unweiblich finde, müssen wir zur Entschuldigung anführen, daß ihr Gefühl, ihr Dasein überhaupt gestört und aus den Schranken gerückt war, innerhalb welcher der Charakter einer Frau sich nur mit Anmuth und Schönheit darstellen kann. Der Oheim, welcher sie erzogen, Vaters Rechte über sie geübt hatte, war eine Art von geistigem Epicuräer; die Abwechselung der Genüsse bedeutete ihm erst den Genuß, Reisen allein hielt er für Leben. Das muntre, schöne Kind führte er überall mit umher, eine leichte Sorge, die Zugabe eines herzlichen Verhält- <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0113"/> <div n="20"> <head>Nachschrift des Herausgebers.</head> <p>Mit jenen andeutenden Worten schließen die Hefte, welche uns vorliegen. Ein schweres häusliches Unglück traf unsern Freund nach Jahresfrist seit dem Besuche des Kölnischen Karnevals. Wir sind im Besitze der Geschichte jenes Zwischenraumes und haben leider die Folgen eines Scherzes zu berichten, welche ernsthafter wurden, als die des Schwankens von Tugend und Großmuth, den sich die schelmische Gräfin mit ihrem Eheherrn erlaubte.</p><lb/> <p>Denn freilich hatte Adolphine — so nennen wir die Gattin unsers Freundes — die Wirkungen nicht berechnet, als sie in ihrem Manne das Bild der unglücklichen Sidonie erneuerte; die Wirkungen, welche ein so unbedachtes Unternehmen hervorbringen mußte und hervorbrachte. Damit man ihr Verfahren nicht gar zu unweiblich finde, müssen wir zur Entschuldigung anführen, daß ihr Gefühl, ihr Dasein überhaupt gestört und aus den Schranken gerückt war, innerhalb welcher der Charakter einer Frau sich nur mit Anmuth und Schönheit darstellen kann. Der Oheim, welcher sie erzogen, Vaters Rechte über sie geübt hatte, war eine Art von geistigem Epicuräer; die Abwechselung der Genüsse bedeutete ihm erst den Genuß, Reisen allein hielt er für Leben. Das muntre, schöne Kind führte er überall mit umher, eine leichte Sorge, die Zugabe eines herzlichen Verhält-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0113]
Nachschrift des Herausgebers. Mit jenen andeutenden Worten schließen die Hefte, welche uns vorliegen. Ein schweres häusliches Unglück traf unsern Freund nach Jahresfrist seit dem Besuche des Kölnischen Karnevals. Wir sind im Besitze der Geschichte jenes Zwischenraumes und haben leider die Folgen eines Scherzes zu berichten, welche ernsthafter wurden, als die des Schwankens von Tugend und Großmuth, den sich die schelmische Gräfin mit ihrem Eheherrn erlaubte.
Denn freilich hatte Adolphine — so nennen wir die Gattin unsers Freundes — die Wirkungen nicht berechnet, als sie in ihrem Manne das Bild der unglücklichen Sidonie erneuerte; die Wirkungen, welche ein so unbedachtes Unternehmen hervorbringen mußte und hervorbrachte. Damit man ihr Verfahren nicht gar zu unweiblich finde, müssen wir zur Entschuldigung anführen, daß ihr Gefühl, ihr Dasein überhaupt gestört und aus den Schranken gerückt war, innerhalb welcher der Charakter einer Frau sich nur mit Anmuth und Schönheit darstellen kann. Der Oheim, welcher sie erzogen, Vaters Rechte über sie geübt hatte, war eine Art von geistigem Epicuräer; die Abwechselung der Genüsse bedeutete ihm erst den Genuß, Reisen allein hielt er für Leben. Das muntre, schöne Kind führte er überall mit umher, eine leichte Sorge, die Zugabe eines herzlichen Verhält-
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Zitationshilfe: | Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/113>, abgerufen am 16.02.2025. |