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Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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hatte sprechen hören, strich er sich mit der Hand über die Stirn und sagte dann zu mir, daß der so eben angekommene ein Gelehrter von Ruf sei, der ein viel gelesenes Journal redigire. Es könne ihm von größtem Nutzen sein, diesen Mann für sich und seine magnetischen Curen zu interessiren, und ich müßte mich daher entschließen, das gegen den Fremden zu sein, was ich schon so oft gewesen, nämlich Hellseherin. Alles wird zur Gewohnheit, die Tugend und das Laster, gedankenlos, ohne besondre Regung willigte ich ein. Es erfolgte die Scene auf dem Felsen, wie mein Begleiter dieselbe angeordnet, wie ich sie einstudirt hatte. Doch erfolgte noch etwas, was Niemand außer mir erfahren hat. Jener Fremde kletterte nach dem Orte, wo die Quelle mit der erdichteten Heilkraft sprang, über einen weitvorlaufenden Felsengrat. Wie er nun, sich wendend, unter dem Orte, wo ich stand, angelangt war, dicht am Abgrunde, verwünschte ich schon den Trug, welcher das Leben eines Menschen, der mir mit Treuherzigkeit einen Dienst erzeigen wollte, in eine so augenscheinliche Gefahr setzte. Aengstlich wollte ich ihn zurückrufen, da sah ich ihn ausgleiten, einer Spalte zu, die aus bodenloser Tiefe dunkel heraufgähnte. Er hat den ihm so nähen Tod vermuthlich selbst nicht bemerkt, ich aber habe gesehen, daß nur noch eine Spanne fehlte, so wäre er in die Tiefe gestürzt. In diesem schrecklichen Augenblicke verließen mich meine äußern Sinne, und vor meinem innern Gesichte stand im nämlichen Augenblicke ein schreck-

hatte sprechen hören, strich er sich mit der Hand über die Stirn und sagte dann zu mir, daß der so eben angekommene ein Gelehrter von Ruf sei, der ein viel gelesenes Journal redigire. Es könne ihm von größtem Nutzen sein, diesen Mann für sich und seine magnetischen Curen zu interessiren, und ich müßte mich daher entschließen, das gegen den Fremden zu sein, was ich schon so oft gewesen, nämlich Hellseherin. Alles wird zur Gewohnheit, die Tugend und das Laster, gedankenlos, ohne besondre Regung willigte ich ein. Es erfolgte die Scene auf dem Felsen, wie mein Begleiter dieselbe angeordnet, wie ich sie einstudirt hatte. Doch erfolgte noch etwas, was Niemand außer mir erfahren hat. Jener Fremde kletterte nach dem Orte, wo die Quelle mit der erdichteten Heilkraft sprang, über einen weitvorlaufenden Felsengrat. Wie er nun, sich wendend, unter dem Orte, wo ich stand, angelangt war, dicht am Abgrunde, verwünschte ich schon den Trug, welcher das Leben eines Menschen, der mir mit Treuherzigkeit einen Dienst erzeigen wollte, in eine so augenscheinliche Gefahr setzte. Aengstlich wollte ich ihn zurückrufen, da sah ich ihn ausgleiten, einer Spalte zu, die aus bodenloser Tiefe dunkel heraufgähnte. Er hat den ihm so nähen Tod vermuthlich selbst nicht bemerkt, ich aber habe gesehen, daß nur noch eine Spanne fehlte, so wäre er in die Tiefe gestürzt. In diesem schrecklichen Augenblicke verließen mich meine äußern Sinne, und vor meinem innern Gesichte stand im nämlichen Augenblicke ein schreck-

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[0103] hatte sprechen hören, strich er sich mit der Hand über die Stirn und sagte dann zu mir, daß der so eben angekommene ein Gelehrter von Ruf sei, der ein viel gelesenes Journal redigire. Es könne ihm von größtem Nutzen sein, diesen Mann für sich und seine magnetischen Curen zu interessiren, und ich müßte mich daher entschließen, das gegen den Fremden zu sein, was ich schon so oft gewesen, nämlich Hellseherin. Alles wird zur Gewohnheit, die Tugend und das Laster, gedankenlos, ohne besondre Regung willigte ich ein. Es erfolgte die Scene auf dem Felsen, wie mein Begleiter dieselbe angeordnet, wie ich sie einstudirt hatte. Doch erfolgte noch etwas, was Niemand außer mir erfahren hat. Jener Fremde kletterte nach dem Orte, wo die Quelle mit der erdichteten Heilkraft sprang, über einen weitvorlaufenden Felsengrat. Wie er nun, sich wendend, unter dem Orte, wo ich stand, angelangt war, dicht am Abgrunde, verwünschte ich schon den Trug, welcher das Leben eines Menschen, der mir mit Treuherzigkeit einen Dienst erzeigen wollte, in eine so augenscheinliche Gefahr setzte. Aengstlich wollte ich ihn zurückrufen, da sah ich ihn ausgleiten, einer Spalte zu, die aus bodenloser Tiefe dunkel heraufgähnte. Er hat den ihm so nähen Tod vermuthlich selbst nicht bemerkt, ich aber habe gesehen, daß nur noch eine Spanne fehlte, so wäre er in die Tiefe gestürzt. In diesem schrecklichen Augenblicke verließen mich meine äußern Sinne, und vor meinem innern Gesichte stand im nämlichen Augenblicke ein schreck-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/103>, abgerufen am 22.11.2024.