des Hinblicks auf das im innern Sinn erfahrene und in le¬ bendigster Erinnerung festgehaltene Wunderzeichen, um den wan¬ kenden Muth mit frischem Eifer wieder aufzurichten. Ihr Sinn wandte sich daher so entschieden von der Wirklichkeit ab, daß sie für die Noth ihrer Aeltern kein Mitgefühl mehr zeigte, denn sie glaubte schon einer inneren Seeligkeit theilhaftig geworden zu sein, welche selbst die dunkelsten Verhältnisse des Lebens mit himmlischem Lichte überstrahlte. Aber eben weil sie inner¬ lich beruhigt nicht mehr einen so leidenschaftlichen Drang nach fortgesetzten Andachtsübungen empfand, gab sie wenigstens den Anforderungen der Aeltern, dieselben zu beschränken, anschei¬ nend nach, und nahm selbst einen mechanischen Antheil an häuslichen Geschäften, wenn sie auch alles Interesse an densel¬ ben verloren hatte, und namentlich niemals bewogen werden konnte, die bisherige Uebertreibung ihrer Frömmigkeit als solche anzuerkennen.
Indeß weit entfernt, daß diese scheinbare Rückkehr zur Wirklichkeit durch Erweckung natürlicher Neigungen einen wohl¬ thätigen Einfluß auf sie hätte ausüben können, wurde dadurch nur ein neuer Widerstreit in ihr aufgeregt, weil die Ueberzeu¬ gung, daß sie allein der Frömmigkeit sich weihen müsse, schon viel zu tief in ihr begründet war, als daß dieselbe mit Nach¬ giebigkeit gegen die Forderungen der Aeltern sich noch hätte ver¬ einbaren lassen. Sie empfand daher eine lebhafte Unruhe, welche als Gewissenszweifel in ihr den Wahn heraufbeschworen, daß sie den Verlockungen des Satans ausgesetzt sei, durch wel¬ chen der Friede ihrer Seele gestört würde. Von neuem ent¬ brannte daher der fromme Eifer, den Versucher durch inbrün¬ stige Gebete und durch Gelübde eines Gott allein geweihten Le¬ bens von sich zurückzuscheuchen, und es begreift sich leicht, daß Niemand von ununterbrochenen Andachtsübungen sie mehr zu¬ rückhalten konnte. Wäre noch eine Verschlimmerung ihres Seelenzustandes möglich gewesen, so würde er dadurch bewirkt worden sein, daß eine frömmelnde Verwandte in Berlin, welche vermuthlich im Kreise anderer Betschwestern mit einer solchen Heiligen Parade machen wollte, sie zu sich ins Haus nahm, um sich zugleich ihrer Pflege bei eigener Kränklichkeit zu bedienen. Daß in einer solchen pietistischen Umgebung nur
des Hinblicks auf das im innern Sinn erfahrene und in le¬ bendigſter Erinnerung feſtgehaltene Wunderzeichen, um den wan¬ kenden Muth mit friſchem Eifer wieder aufzurichten. Ihr Sinn wandte ſich daher ſo entſchieden von der Wirklichkeit ab, daß ſie fuͤr die Noth ihrer Aeltern kein Mitgefuͤhl mehr zeigte, denn ſie glaubte ſchon einer inneren Seeligkeit theilhaftig geworden zu ſein, welche ſelbſt die dunkelſten Verhaͤltniſſe des Lebens mit himmliſchem Lichte uͤberſtrahlte. Aber eben weil ſie inner¬ lich beruhigt nicht mehr einen ſo leidenſchaftlichen Drang nach fortgeſetzten Andachtsuͤbungen empfand, gab ſie wenigſtens den Anforderungen der Aeltern, dieſelben zu beſchraͤnken, anſchei¬ nend nach, und nahm ſelbſt einen mechaniſchen Antheil an haͤuslichen Geſchaͤften, wenn ſie auch alles Intereſſe an denſel¬ ben verloren hatte, und namentlich niemals bewogen werden konnte, die bisherige Uebertreibung ihrer Froͤmmigkeit als ſolche anzuerkennen.
Indeß weit entfernt, daß dieſe ſcheinbare Ruͤckkehr zur Wirklichkeit durch Erweckung natuͤrlicher Neigungen einen wohl¬ thaͤtigen Einfluß auf ſie haͤtte ausuͤben koͤnnen, wurde dadurch nur ein neuer Widerſtreit in ihr aufgeregt, weil die Ueberzeu¬ gung, daß ſie allein der Froͤmmigkeit ſich weihen muͤſſe, ſchon viel zu tief in ihr begruͤndet war, als daß dieſelbe mit Nach¬ giebigkeit gegen die Forderungen der Aeltern ſich noch haͤtte ver¬ einbaren laſſen. Sie empfand daher eine lebhafte Unruhe, welche als Gewiſſenszweifel in ihr den Wahn heraufbeſchworen, daß ſie den Verlockungen des Satans ausgeſetzt ſei, durch wel¬ chen der Friede ihrer Seele geſtoͤrt wuͤrde. Von neuem ent¬ brannte daher der fromme Eifer, den Verſucher durch inbruͤn¬ ſtige Gebete und durch Geluͤbde eines Gott allein geweihten Le¬ bens von ſich zuruͤckzuſcheuchen, und es begreift ſich leicht, daß Niemand von ununterbrochenen Andachtsuͤbungen ſie mehr zu¬ ruͤckhalten konnte. Waͤre noch eine Verſchlimmerung ihres Seelenzuſtandes moͤglich geweſen, ſo wuͤrde er dadurch bewirkt worden ſein, daß eine froͤmmelnde Verwandte in Berlin, welche vermuthlich im Kreiſe anderer Betſchweſtern mit einer ſolchen Heiligen Parade machen wollte, ſie zu ſich ins Haus nahm, um ſich zugleich ihrer Pflege bei eigener Kraͤnklichkeit zu bedienen. Daß in einer ſolchen pietiſtiſchen Umgebung nur
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des Hinblicks auf das im innern Sinn erfahrene und in le¬
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kenden Muth mit friſchem Eifer wieder aufzurichten. Ihr Sinn
wandte ſich daher ſo entſchieden von der Wirklichkeit ab, daß
ſie fuͤr die Noth ihrer Aeltern kein Mitgefuͤhl mehr zeigte, denn
ſie glaubte ſchon einer inneren Seeligkeit theilhaftig geworden
zu ſein, welche ſelbſt die dunkelſten Verhaͤltniſſe des Lebens
mit himmliſchem Lichte uͤberſtrahlte. Aber eben weil ſie inner¬
lich beruhigt nicht mehr einen ſo leidenſchaftlichen Drang nach
fortgeſetzten Andachtsuͤbungen empfand, gab ſie wenigſtens den
Anforderungen der Aeltern, dieſelben zu beſchraͤnken, anſchei¬
nend nach, und nahm ſelbſt einen mechaniſchen Antheil an
haͤuslichen Geſchaͤften, wenn ſie auch alles Intereſſe an denſel¬
ben verloren hatte, und namentlich niemals bewogen werden
konnte, die bisherige Uebertreibung ihrer Froͤmmigkeit als ſolche
anzuerkennen.
Indeß weit entfernt, daß dieſe ſcheinbare Ruͤckkehr zur
Wirklichkeit durch Erweckung natuͤrlicher Neigungen einen wohl¬
thaͤtigen Einfluß auf ſie haͤtte ausuͤben koͤnnen, wurde dadurch
nur ein neuer Widerſtreit in ihr aufgeregt, weil die Ueberzeu¬
gung, daß ſie allein der Froͤmmigkeit ſich weihen muͤſſe, ſchon
viel zu tief in ihr begruͤndet war, als daß dieſelbe mit Nach¬
giebigkeit gegen die Forderungen der Aeltern ſich noch haͤtte ver¬
einbaren laſſen. Sie empfand daher eine lebhafte Unruhe,
welche als Gewiſſenszweifel in ihr den Wahn heraufbeſchworen,
daß ſie den Verlockungen des Satans ausgeſetzt ſei, durch wel¬
chen der Friede ihrer Seele geſtoͤrt wuͤrde. Von neuem ent¬
brannte daher der fromme Eifer, den Verſucher durch inbruͤn¬
ſtige Gebete und durch Geluͤbde eines Gott allein geweihten Le¬
bens von ſich zuruͤckzuſcheuchen, und es begreift ſich leicht, daß
Niemand von ununterbrochenen Andachtsuͤbungen ſie mehr zu¬
ruͤckhalten konnte. Waͤre noch eine Verſchlimmerung ihres
Seelenzuſtandes moͤglich geweſen, ſo wuͤrde er dadurch bewirkt
worden ſein, daß eine froͤmmelnde Verwandte in Berlin,
welche vermuthlich im Kreiſe anderer Betſchweſtern mit einer
ſolchen Heiligen Parade machen wollte, ſie zu ſich ins Haus
nahm, um ſich zugleich ihrer Pflege bei eigener Kraͤnklichkeit
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/93>, abgerufen am 26.07.2024.
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