Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬ charakter des Menschen, wendet sich seiner Natur nach einer übersinnlichen Welt zu, da es mit den zahllosen Beschrän¬ kungen der sinnlichen Wirklichheit überall in den schroffsten Widerstreit tritt, und dadurch mehr oder weniger seiner Be¬ friedigung verlustig geht. Das religiöse Bewußtsein, in wel¬ chem jene übersinnliche Welt zur deutlichen Vorstellung gelan¬ gen soll, muß daher auch als der aus dem innersten Wesen des Menschen entspringende Urtrieb, als die Grundbedingung seines Denkens und Wollens, als das Gesetz angesehen wer¬ den, durch dessen Erfüllung allein seine Gesammtthätigkeit das Ziel ihrer Bestimmung erreichen kann. Denn indem das re¬ ligiöse Bewußtsein dem Menschen eine höhere und vollkomm¬ nere Weltordnung, als seinen Sinnen sich darstellt, offenbart, und ihm sein Bürgerrecht in derselben verheißt, fordert sie ihn mit dem stärksten Machtgebot auf, sich dieses herrlichen Berufes würdig zu bezeigen, indem er letzterem seine welt¬ lichen Interessen dergestalt unterordnet, daß sie ihn demselben nicht abtrünnig machen können. In diesem Sinne ist daher je¬ nes Bewußtsein die Quelle aller Pflichtbegriffe, nämlich der nothwendigen Vorschriften, durch deren treue Befolgung er allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen höchsten Gutes theilhaftig werden, und sonach mit den Forderungen seiner geistigen Natur in Uebereinstimmung treten kann. End¬ lich schließen die religiösen Vorstellungen den Grundbegriff eines göttlichen Wesens in sich, welches der Mensch als den Urhe¬ ber und Gesetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abso¬ luten Heiligkeit und Nothwendigkeit seiner Gebote stets mit tiefster Ehrfurcht und festester Ueberzeugung inne zu werden.
Ideler über d. rel. Wahnsinn. 1
Einleitung.
Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬ charakter des Menſchen, wendet ſich ſeiner Natur nach einer uͤberſinnlichen Welt zu, da es mit den zahlloſen Beſchraͤn¬ kungen der ſinnlichen Wirklichheit uͤberall in den ſchroffſten Widerſtreit tritt, und dadurch mehr oder weniger ſeiner Be¬ friedigung verluſtig geht. Das religioͤſe Bewußtſein, in wel¬ chem jene uͤberſinnliche Welt zur deutlichen Vorſtellung gelan¬ gen ſoll, muß daher auch als der aus dem innerſten Weſen des Menſchen entſpringende Urtrieb, als die Grundbedingung ſeines Denkens und Wollens, als das Geſetz angeſehen wer¬ den, durch deſſen Erfuͤllung allein ſeine Geſammtthaͤtigkeit das Ziel ihrer Beſtimmung erreichen kann. Denn indem das re¬ ligioͤſe Bewußtſein dem Menſchen eine hoͤhere und vollkomm¬ nere Weltordnung, als ſeinen Sinnen ſich darſtellt, offenbart, und ihm ſein Buͤrgerrecht in derſelben verheißt, fordert ſie ihn mit dem ſtaͤrkſten Machtgebot auf, ſich dieſes herrlichen Berufes wuͤrdig zu bezeigen, indem er letzterem ſeine welt¬ lichen Intereſſen dergeſtalt unterordnet, daß ſie ihn demſelben nicht abtruͤnnig machen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt daher je¬ nes Bewußtſein die Quelle aller Pflichtbegriffe, naͤmlich der nothwendigen Vorſchriften, durch deren treue Befolgung er allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen hoͤchſten Gutes theilhaftig werden, und ſonach mit den Forderungen ſeiner geiſtigen Natur in Uebereinſtimmung treten kann. End¬ lich ſchließen die religioͤſen Vorſtellungen den Grundbegriff eines goͤttlichen Weſens in ſich, welches der Menſch als den Urhe¬ ber und Geſetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abſo¬ luten Heiligkeit und Nothwendigkeit ſeiner Gebote ſtets mit tiefſter Ehrfurcht und feſteſter Ueberzeugung inne zu werden.
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 1
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Einleitung.
Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬
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kungen der ſinnlichen Wirklichheit uͤberall in den ſchroffſten
Widerſtreit tritt, und dadurch mehr oder weniger ſeiner Be¬
friedigung verluſtig geht. Das religioͤſe Bewußtſein, in wel¬
chem jene uͤberſinnliche Welt zur deutlichen Vorſtellung gelan¬
gen ſoll, muß daher auch als der aus dem innerſten Weſen
des Menſchen entſpringende Urtrieb, als die Grundbedingung
ſeines Denkens und Wollens, als das Geſetz angeſehen wer¬
den, durch deſſen Erfuͤllung allein ſeine Geſammtthaͤtigkeit das
Ziel ihrer Beſtimmung erreichen kann. Denn indem das re¬
ligioͤſe Bewußtſein dem Menſchen eine hoͤhere und vollkomm¬
nere Weltordnung, als ſeinen Sinnen ſich darſtellt, offenbart,
und ihm ſein Buͤrgerrecht in derſelben verheißt, fordert ſie
ihn mit dem ſtaͤrkſten Machtgebot auf, ſich dieſes herrlichen
Berufes wuͤrdig zu bezeigen, indem er letzterem ſeine welt¬
lichen Intereſſen dergeſtalt unterordnet, daß ſie ihn demſelben
nicht abtruͤnnig machen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt daher je¬
nes Bewußtſein die Quelle aller Pflichtbegriffe, naͤmlich der
nothwendigen Vorſchriften, durch deren treue Befolgung er
allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen hoͤchſten
Gutes theilhaftig werden, und ſonach mit den Forderungen
ſeiner geiſtigen Natur in Uebereinſtimmung treten kann. End¬
lich ſchließen die religioͤſen Vorſtellungen den Grundbegriff eines
goͤttlichen Weſens in ſich, welches der Menſch als den Urhe¬
ber und Geſetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abſo¬
luten Heiligkeit und Nothwendigkeit ſeiner Gebote ſtets mit
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/9>, abgerufen am 16.02.2025.
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