Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Als die W. sich dawider mit den Worten erklärte, sie müsse
nach ihrem Gewissen handeln, wurde ihr die Antwort zu Theil:
"ach was Gewissen, man muß dem Geiste folgen", wobei
man nicht undeutlich zu verstehen gab, die Vorsteher seien
die Verwalter der Geheimnisse Gottes. Insbesondere wurde
der unausgesetzte Besuch der fast alltäglichen Versammlungen
zur strengen Pflicht gemacht, welcher die W. nicht nachleben
konnte, da sie ihrem Erwerbe nachgehen mußte. Ja, um
die schwachen Gemüther noch mehr zu ängstigen, wurden über
die Abtrünnigen, welche man gleichsam dem Satan übergab,
schwere Flüche und Verwünschungen ausgesprochen, wobei der
W., wie sie sich ausdrückt, oft die Haare zu Berge standen.
Wenn sie über alles Erlebte ganz irre an sich geworden war,
und um Belehrung bat, so wurden ihr so schwankende Ant¬
worten ertheilt, daß sie in immer größere Verwirrung gerieth.

Auch körperlich war sie stets sehr leidend, wozu außer
den fortwährenden Gemüthsunruhen insbesondere angestrengte
weibliche Arbeiten bei sitzender Lebensweise und der übermäßige
Genuß des Kaffee's bei einer sehr mangelhaften und ungere¬
gelten Ernährung beitrugen. Vornämlich war sie von hart¬
näckigen Leibesverstopfungen geplagt, welche gelegentlich mit
Durchfällen wechselten; zugleich litt sie noch an anderen Un¬
terleibsbeschwerden, welche wesentlich dazu beitrugen, ihre Ge¬
müthsunruhe und geistige Befangenheit zu verschlimmern. Ei¬
nen sehr hohen Grad erreichten diese lästigen Zufälle im Spät¬
herbste 1844, wo sie in einem ungeheizten Zimmer sehr ämsig
mit Nähen und anderen Handarbeiten beschäftigt war. Sie
fühlte sich sehr matt und angegriffen, raffte sich zwar immer
wieder auf, und suchte sich selbst durch Spaziergänge zu er¬
muntern, wurde indeß gewahr, daß ihre Krankheit mit jedem
Monate zunahm. Als sie endlich genöthigt war, das Bett zu
hüten, ließ sie eine Frau M. bitten, ihr Hülfe zu leisten,
welche sogleich beim Eintreten von dem Tode ihrer Mutter zu
reden anfing, und dabei nicht undeutlich zu verstehen gab,
daß die W. gleichfalls lebensgefährlich krank sei. Bald darauf
traten drei Männer ins Zimmer (vielleicht nur eine Sinnes¬
täuschung der W.), unter denen einer beim Leichenbegängnisse
ihrer Stiefmutter zugegen gewesen war, an welche sie dadurch

Als die W. ſich dawider mit den Worten erklaͤrte, ſie muͤſſe
nach ihrem Gewiſſen handeln, wurde ihr die Antwort zu Theil:
„ach was Gewiſſen, man muß dem Geiſte folgen”, wobei
man nicht undeutlich zu verſtehen gab, die Vorſteher ſeien
die Verwalter der Geheimniſſe Gottes. Insbeſondere wurde
der unausgeſetzte Beſuch der faſt alltaͤglichen Verſammlungen
zur ſtrengen Pflicht gemacht, welcher die W. nicht nachleben
konnte, da ſie ihrem Erwerbe nachgehen mußte. Ja, um
die ſchwachen Gemuͤther noch mehr zu aͤngſtigen, wurden uͤber
die Abtruͤnnigen, welche man gleichſam dem Satan uͤbergab,
ſchwere Fluͤche und Verwuͤnſchungen ausgeſprochen, wobei der
W., wie ſie ſich ausdruͤckt, oft die Haare zu Berge ſtanden.
Wenn ſie uͤber alles Erlebte ganz irre an ſich geworden war,
und um Belehrung bat, ſo wurden ihr ſo ſchwankende Ant¬
worten ertheilt, daß ſie in immer groͤßere Verwirrung gerieth.

Auch koͤrperlich war ſie ſtets ſehr leidend, wozu außer
den fortwaͤhrenden Gemuͤthsunruhen insbeſondere angeſtrengte
weibliche Arbeiten bei ſitzender Lebensweiſe und der uͤbermaͤßige
Genuß des Kaffee's bei einer ſehr mangelhaften und ungere¬
gelten Ernaͤhrung beitrugen. Vornaͤmlich war ſie von hart¬
naͤckigen Leibesverſtopfungen geplagt, welche gelegentlich mit
Durchfaͤllen wechſelten; zugleich litt ſie noch an anderen Un¬
terleibsbeſchwerden, welche weſentlich dazu beitrugen, ihre Ge¬
muͤthsunruhe und geiſtige Befangenheit zu verſchlimmern. Ei¬
nen ſehr hohen Grad erreichten dieſe laͤſtigen Zufaͤlle im Spaͤt¬
herbſte 1844, wo ſie in einem ungeheizten Zimmer ſehr aͤmſig
mit Naͤhen und anderen Handarbeiten beſchaͤftigt war. Sie
fuͤhlte ſich ſehr matt und angegriffen, raffte ſich zwar immer
wieder auf, und ſuchte ſich ſelbſt durch Spaziergaͤnge zu er¬
muntern, wurde indeß gewahr, daß ihre Krankheit mit jedem
Monate zunahm. Als ſie endlich genoͤthigt war, das Bett zu
huͤten, ließ ſie eine Frau M. bitten, ihr Huͤlfe zu leiſten,
welche ſogleich beim Eintreten von dem Tode ihrer Mutter zu
reden anfing, und dabei nicht undeutlich zu verſtehen gab,
daß die W. gleichfalls lebensgefaͤhrlich krank ſei. Bald darauf
traten drei Maͤnner ins Zimmer (vielleicht nur eine Sinnes¬
taͤuſchung der W.), unter denen einer beim Leichenbegaͤngniſſe
ihrer Stiefmutter zugegen geweſen war, an welche ſie dadurch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0081" n="73"/>
Als die W. &#x017F;ich dawider mit den Worten erkla&#x0364;rte, &#x017F;ie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e<lb/>
nach ihrem Gewi&#x017F;&#x017F;en handeln, wurde ihr die Antwort zu Theil:<lb/>
&#x201E;ach was Gewi&#x017F;&#x017F;en, man muß dem Gei&#x017F;te folgen&#x201D;, wobei<lb/>
man nicht undeutlich zu ver&#x017F;tehen gab, die Vor&#x017F;teher &#x017F;eien<lb/>
die Verwalter der Geheimni&#x017F;&#x017F;e Gottes. Insbe&#x017F;ondere wurde<lb/>
der unausge&#x017F;etzte Be&#x017F;uch der fa&#x017F;t allta&#x0364;glichen Ver&#x017F;ammlungen<lb/>
zur &#x017F;trengen Pflicht gemacht, welcher die W. nicht nachleben<lb/>
konnte, da &#x017F;ie ihrem Erwerbe nachgehen mußte. Ja, um<lb/>
die &#x017F;chwachen Gemu&#x0364;ther noch mehr zu a&#x0364;ng&#x017F;tigen, wurden u&#x0364;ber<lb/>
die Abtru&#x0364;nnigen, welche man gleich&#x017F;am dem Satan u&#x0364;bergab,<lb/>
&#x017F;chwere Flu&#x0364;che und Verwu&#x0364;n&#x017F;chungen ausge&#x017F;prochen, wobei der<lb/>
W., wie &#x017F;ie &#x017F;ich ausdru&#x0364;ckt, oft die Haare zu Berge &#x017F;tanden.<lb/>
Wenn &#x017F;ie u&#x0364;ber alles Erlebte ganz irre an &#x017F;ich geworden war,<lb/>
und um Belehrung bat, &#x017F;o wurden ihr &#x017F;o &#x017F;chwankende Ant¬<lb/>
worten ertheilt, daß &#x017F;ie in immer gro&#x0364;ßere Verwirrung gerieth.</p><lb/>
        <p>Auch ko&#x0364;rperlich war &#x017F;ie &#x017F;tets &#x017F;ehr leidend, wozu außer<lb/>
den fortwa&#x0364;hrenden Gemu&#x0364;thsunruhen insbe&#x017F;ondere ange&#x017F;trengte<lb/>
weibliche Arbeiten bei &#x017F;itzender Lebenswei&#x017F;e und der u&#x0364;berma&#x0364;ßige<lb/>
Genuß des Kaffee's bei einer &#x017F;ehr mangelhaften und ungere¬<lb/>
gelten Erna&#x0364;hrung beitrugen. Vorna&#x0364;mlich war &#x017F;ie von hart¬<lb/>
na&#x0364;ckigen Leibesver&#x017F;topfungen geplagt, welche gelegentlich mit<lb/>
Durchfa&#x0364;llen wech&#x017F;elten; zugleich litt &#x017F;ie noch an anderen Un¬<lb/>
terleibsbe&#x017F;chwerden, welche we&#x017F;entlich dazu beitrugen, ihre Ge¬<lb/>
mu&#x0364;thsunruhe und gei&#x017F;tige Befangenheit zu ver&#x017F;chlimmern. Ei¬<lb/>
nen &#x017F;ehr hohen Grad erreichten die&#x017F;e la&#x0364;&#x017F;tigen Zufa&#x0364;lle im Spa&#x0364;<lb/>
herb&#x017F;te 1844, wo &#x017F;ie in einem ungeheizten Zimmer &#x017F;ehr a&#x0364;m&#x017F;ig<lb/>
mit Na&#x0364;hen und anderen Handarbeiten be&#x017F;cha&#x0364;ftigt war. Sie<lb/>
fu&#x0364;hlte &#x017F;ich &#x017F;ehr matt und angegriffen, raffte &#x017F;ich zwar immer<lb/>
wieder auf, und &#x017F;uchte &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t durch Spazierga&#x0364;nge zu er¬<lb/>
muntern, wurde indeß gewahr, daß ihre Krankheit mit jedem<lb/>
Monate zunahm. Als &#x017F;ie endlich geno&#x0364;thigt war, das Bett zu<lb/>
hu&#x0364;ten, ließ &#x017F;ie eine Frau M. bitten, ihr Hu&#x0364;lfe zu lei&#x017F;ten,<lb/>
welche &#x017F;ogleich beim Eintreten von dem Tode ihrer Mutter zu<lb/>
reden anfing, und dabei nicht undeutlich zu ver&#x017F;tehen gab,<lb/>
daß die W. gleichfalls lebensgefa&#x0364;hrlich krank &#x017F;ei. Bald darauf<lb/>
traten drei Ma&#x0364;nner ins Zimmer (vielleicht nur eine Sinnes¬<lb/>
ta&#x0364;u&#x017F;chung der W.), unter denen einer beim Leichenbega&#x0364;ngni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
ihrer Stiefmutter zugegen gewe&#x017F;en war, an welche &#x017F;ie dadurch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0081] Als die W. ſich dawider mit den Worten erklaͤrte, ſie muͤſſe nach ihrem Gewiſſen handeln, wurde ihr die Antwort zu Theil: „ach was Gewiſſen, man muß dem Geiſte folgen”, wobei man nicht undeutlich zu verſtehen gab, die Vorſteher ſeien die Verwalter der Geheimniſſe Gottes. Insbeſondere wurde der unausgeſetzte Beſuch der faſt alltaͤglichen Verſammlungen zur ſtrengen Pflicht gemacht, welcher die W. nicht nachleben konnte, da ſie ihrem Erwerbe nachgehen mußte. Ja, um die ſchwachen Gemuͤther noch mehr zu aͤngſtigen, wurden uͤber die Abtruͤnnigen, welche man gleichſam dem Satan uͤbergab, ſchwere Fluͤche und Verwuͤnſchungen ausgeſprochen, wobei der W., wie ſie ſich ausdruͤckt, oft die Haare zu Berge ſtanden. Wenn ſie uͤber alles Erlebte ganz irre an ſich geworden war, und um Belehrung bat, ſo wurden ihr ſo ſchwankende Ant¬ worten ertheilt, daß ſie in immer groͤßere Verwirrung gerieth. Auch koͤrperlich war ſie ſtets ſehr leidend, wozu außer den fortwaͤhrenden Gemuͤthsunruhen insbeſondere angeſtrengte weibliche Arbeiten bei ſitzender Lebensweiſe und der uͤbermaͤßige Genuß des Kaffee's bei einer ſehr mangelhaften und ungere¬ gelten Ernaͤhrung beitrugen. Vornaͤmlich war ſie von hart¬ naͤckigen Leibesverſtopfungen geplagt, welche gelegentlich mit Durchfaͤllen wechſelten; zugleich litt ſie noch an anderen Un¬ terleibsbeſchwerden, welche weſentlich dazu beitrugen, ihre Ge¬ muͤthsunruhe und geiſtige Befangenheit zu verſchlimmern. Ei¬ nen ſehr hohen Grad erreichten dieſe laͤſtigen Zufaͤlle im Spaͤt¬ herbſte 1844, wo ſie in einem ungeheizten Zimmer ſehr aͤmſig mit Naͤhen und anderen Handarbeiten beſchaͤftigt war. Sie fuͤhlte ſich ſehr matt und angegriffen, raffte ſich zwar immer wieder auf, und ſuchte ſich ſelbſt durch Spaziergaͤnge zu er¬ muntern, wurde indeß gewahr, daß ihre Krankheit mit jedem Monate zunahm. Als ſie endlich genoͤthigt war, das Bett zu huͤten, ließ ſie eine Frau M. bitten, ihr Huͤlfe zu leiſten, welche ſogleich beim Eintreten von dem Tode ihrer Mutter zu reden anfing, und dabei nicht undeutlich zu verſtehen gab, daß die W. gleichfalls lebensgefaͤhrlich krank ſei. Bald darauf traten drei Maͤnner ins Zimmer (vielleicht nur eine Sinnes¬ taͤuſchung der W.), unter denen einer beim Leichenbegaͤngniſſe ihrer Stiefmutter zugegen geweſen war, an welche ſie dadurch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/81
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/81>, abgerufen am 27.11.2024.