Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.worauf auch die Aeußerungen einiger Mitglieder hindeuteten, worauf auch die Aeußerungen einiger Mitglieder hindeuteten, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0080" n="72"/> worauf auch die Aeußerungen einiger Mitglieder hindeuteten,<lb/> daß er ſich fuͤr einen wahren Meſſias ausgeben wolle. Sie<lb/> aͤußerte daher geradezu gegen ihn, ſie wiſſe nicht, ob ſie ver¬<lb/> rathen oder verkauft ſei, da ſie ſich uͤberall von Hinterliſt<lb/> umſtrickt ſaͤhe, deshalb bete ſie eifrig zu Gott um Beiſtand<lb/> und Erleuchtung uͤber ihr wahres Seelenheil. Ja ſie aͤußerte<lb/> ganz beſtimmt, daß ihr durch die Unlauterkeit des anabaptiſti¬<lb/> ſchen Gottesdienſtes die Religion zuletzt ganz zuwider gewor¬<lb/> den ſei; und wenn man hierbei ihre ganze geiſtige Richtung<lb/> von Kindheit an ins Auge faßt, ſo kann es wohl mit keinem<lb/> ſtaͤrkeren Ausdrucke bezeichnet werden, daß ſie damals mit ih¬<lb/> rem heiligſten Intereſſe ganz zerfallen war. Seit einer Reihe<lb/> von Jahren war ſie alſo in Widerſtreit mit ihrer fruͤheren<lb/> Denkweiſe und Geſinnung gekommen, und gleichſam in einer<lb/> Aufloͤſung ihrer Seelenverfaſſung begriffen, anſtatt in folge¬<lb/> rechter Entwickelung derſelben fortzuſchreiten, daher denn ein<lb/> ſolcher Zuſtand nicht fortdauern konnte, ſondern auf irgend<lb/> eine Weiſe einen gaͤnzlichen Umſchwung erfahren mußte. Sie<lb/> fuͤhlte dies auch ſo gut, daß ſie mehrmals auf dem Punkte<lb/> ſtand, ſich von den Wiedertaͤufern loszureißen; indeß der alle<lb/> ſchwaͤrmeriſchen Secten beherrſchende fanatiſche Geiſt hielt ſie<lb/> noch viel zu feſt umſtrickt, als daß ſie zu einem feſten Ent¬<lb/> ſchluſſe kommen konnte, und da mehrere Mitglieder daſſelbe<lb/> von ſich ausſagten, ſo ſah ſie ſich gefangen in einer fremden<lb/> Macht. Beſſer war es ihrem Freunde, dem Schneider, gelungen,<lb/> welcher, als er durch den Beſchluß von 14 Stimmen excom¬<lb/> municirt worden war, und nicht einmal die Namen ſeiner<lb/> Gegner erfahren konnte, hiervon Veranlaſſung nahm, fuͤr im¬<lb/> mer aus dem Bunde zu ſcheiden. Indeß diente das fernere<lb/> Verbleiben unter den Wiedertaͤufern nur dazu, die W. immer<lb/> mehr gegen dieſelben zu empoͤren, indem ſie bei mannigfachen<lb/> Gelegenheiten die Beweiſe arger Heuchelei erhielt. Den oͤf¬<lb/> fentlichen Suͤndenbekenntniſſen folgte oft ein Ausbruch frivoler<lb/> Geſinnung; wirkliche Forderungen des Chriſtenthums, z. B.<lb/> daß man dem Schuldigen verzeihen ſolle, wurden geradezu<lb/> als unausfuͤhrbar verſpottet; haͤufig wurde das Gewiſſen durch<lb/> neue Satzungen beſchwert, z. B. durch Aufforderungen zum<lb/> Faſten, zur Theilnahme an willkuͤrlich angeſtellten Feſten.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [72/0080]
worauf auch die Aeußerungen einiger Mitglieder hindeuteten,
daß er ſich fuͤr einen wahren Meſſias ausgeben wolle. Sie
aͤußerte daher geradezu gegen ihn, ſie wiſſe nicht, ob ſie ver¬
rathen oder verkauft ſei, da ſie ſich uͤberall von Hinterliſt
umſtrickt ſaͤhe, deshalb bete ſie eifrig zu Gott um Beiſtand
und Erleuchtung uͤber ihr wahres Seelenheil. Ja ſie aͤußerte
ganz beſtimmt, daß ihr durch die Unlauterkeit des anabaptiſti¬
ſchen Gottesdienſtes die Religion zuletzt ganz zuwider gewor¬
den ſei; und wenn man hierbei ihre ganze geiſtige Richtung
von Kindheit an ins Auge faßt, ſo kann es wohl mit keinem
ſtaͤrkeren Ausdrucke bezeichnet werden, daß ſie damals mit ih¬
rem heiligſten Intereſſe ganz zerfallen war. Seit einer Reihe
von Jahren war ſie alſo in Widerſtreit mit ihrer fruͤheren
Denkweiſe und Geſinnung gekommen, und gleichſam in einer
Aufloͤſung ihrer Seelenverfaſſung begriffen, anſtatt in folge¬
rechter Entwickelung derſelben fortzuſchreiten, daher denn ein
ſolcher Zuſtand nicht fortdauern konnte, ſondern auf irgend
eine Weiſe einen gaͤnzlichen Umſchwung erfahren mußte. Sie
fuͤhlte dies auch ſo gut, daß ſie mehrmals auf dem Punkte
ſtand, ſich von den Wiedertaͤufern loszureißen; indeß der alle
ſchwaͤrmeriſchen Secten beherrſchende fanatiſche Geiſt hielt ſie
noch viel zu feſt umſtrickt, als daß ſie zu einem feſten Ent¬
ſchluſſe kommen konnte, und da mehrere Mitglieder daſſelbe
von ſich ausſagten, ſo ſah ſie ſich gefangen in einer fremden
Macht. Beſſer war es ihrem Freunde, dem Schneider, gelungen,
welcher, als er durch den Beſchluß von 14 Stimmen excom¬
municirt worden war, und nicht einmal die Namen ſeiner
Gegner erfahren konnte, hiervon Veranlaſſung nahm, fuͤr im¬
mer aus dem Bunde zu ſcheiden. Indeß diente das fernere
Verbleiben unter den Wiedertaͤufern nur dazu, die W. immer
mehr gegen dieſelben zu empoͤren, indem ſie bei mannigfachen
Gelegenheiten die Beweiſe arger Heuchelei erhielt. Den oͤf¬
fentlichen Suͤndenbekenntniſſen folgte oft ein Ausbruch frivoler
Geſinnung; wirkliche Forderungen des Chriſtenthums, z. B.
daß man dem Schuldigen verzeihen ſolle, wurden geradezu
als unausfuͤhrbar verſpottet; haͤufig wurde das Gewiſſen durch
neue Satzungen beſchwert, z. B. durch Aufforderungen zum
Faſten, zur Theilnahme an willkuͤrlich angeſtellten Feſten.
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