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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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Schmähsucht derselben scheiterte. Es kam mit ihr schon damals
bei ihren erbaulichen Betrachtungen so weit, daß sie die Nähe
des Erlösers als eines steten Begleiters zu spüren glaubte, und
daß sie, in ascetischer Selbstprüfung sich mit unverdienten
Selbstanklagen beschwerend, in dem durch ihre Beklommenheit
veranlaßten Herzklopfen eine Bestätigung des Liederverses zu
finden meinte: "Er klopfet für und für so stark an unsres Her¬
zens Thür." Im erzwungenen Ernst einer schon damals
exaltirten Stimmung empfand sie selbst für die unschuldigen
Jugendfreuden so wenig Sympathie mehr, daß sie in heiteren
geselligen Kreisen ihren bangen Gefühlen durch Weinen Luft
machen mußte, und daß sie die Werbung eines jungen Mannes
um ihre Hand entschieden zurückwies. Sie beschäftigte sich
so eifrig mit den Aufgaben aus der Sonntagsschule und mit
weiblichen Arbeiten, daß ihr gar keine Zeit zur Erholung blieb,
und die karge Kost, mit welcher sie sich bei dürftigem Erwerbe
begnügen mußte, wirkte dazu mit, daß sie sich in körperlicher
Beziehung sehr unwohl befand.

Nach anhaltender religiöser Erregung begierig, ergriff sie
jede Gelegenheit, dieselbe in sich zu wecken und zu unterhalten,
daher sie nicht nur sehr häufig die Kirche und pietistische Ver¬
sammlungen besuchte, sondern sich auch eine Menge frommer
Sprüche einprägte. Sie glaubte nun erst zur Erkenntniß der
Wahrheit gelangt, gleichsam aus dem Seelenschlafe der Welt¬
leute erwacht zu sein, und es überkam sie dabei eine so große
Freudigkeit, daß sie oft auf die Worte der Predigten gar nicht
mehr hörte, sondern bei dem Namen Jesu jedesmal in sich
wiederholte: "ich halte dich, ich lasse dich nicht". Sie erzählt
ferner: "ich hatte mich zu jener Zeit ganz entschieden im Her¬
zen gegen Gott erklärt: nimm mich nur hin, und führe mich
durch die Welt, wie es dem Heilande und dir gefällt, und so
übergebe ich mich dem Herrn, nicht halb, nicht dreiviertel, son¬
dern ganz." Indeß der mühsam errungene Friede ihres Her¬
zens wurde bald wieder gestört durch die Lectüre jener fanatisch
mystischen Traktätlein, welche schon so viele Verwirrung und
Finsterniß in die Köpfe, so viele Gewissensangst oder schwär¬
merische Exaltation in die Gemüther gebracht haben. Nament¬
lich forderte ein solches Traktätlein sie zu jener rigoristischen

Schmaͤhſucht derſelben ſcheiterte. Es kam mit ihr ſchon damals
bei ihren erbaulichen Betrachtungen ſo weit, daß ſie die Naͤhe
des Erloͤſers als eines ſteten Begleiters zu ſpuͤren glaubte, und
daß ſie, in aſcetiſcher Selbſtpruͤfung ſich mit unverdienten
Selbſtanklagen beſchwerend, in dem durch ihre Beklommenheit
veranlaßten Herzklopfen eine Beſtaͤtigung des Liederverſes zu
finden meinte: „Er klopfet fuͤr und fuͤr ſo ſtark an unſres Her¬
zens Thuͤr.” Im erzwungenen Ernſt einer ſchon damals
exaltirten Stimmung empfand ſie ſelbſt fuͤr die unſchuldigen
Jugendfreuden ſo wenig Sympathie mehr, daß ſie in heiteren
geſelligen Kreiſen ihren bangen Gefuͤhlen durch Weinen Luft
machen mußte, und daß ſie die Werbung eines jungen Mannes
um ihre Hand entſchieden zuruͤckwies. Sie beſchaͤftigte ſich
ſo eifrig mit den Aufgaben aus der Sonntagsſchule und mit
weiblichen Arbeiten, daß ihr gar keine Zeit zur Erholung blieb,
und die karge Koſt, mit welcher ſie ſich bei duͤrftigem Erwerbe
begnuͤgen mußte, wirkte dazu mit, daß ſie ſich in koͤrperlicher
Beziehung ſehr unwohl befand.

Nach anhaltender religioͤſer Erregung begierig, ergriff ſie
jede Gelegenheit, dieſelbe in ſich zu wecken und zu unterhalten,
daher ſie nicht nur ſehr haͤufig die Kirche und pietiſtiſche Ver¬
ſammlungen beſuchte, ſondern ſich auch eine Menge frommer
Spruͤche einpraͤgte. Sie glaubte nun erſt zur Erkenntniß der
Wahrheit gelangt, gleichſam aus dem Seelenſchlafe der Welt¬
leute erwacht zu ſein, und es uͤberkam ſie dabei eine ſo große
Freudigkeit, daß ſie oft auf die Worte der Predigten gar nicht
mehr hoͤrte, ſondern bei dem Namen Jeſu jedesmal in ſich
wiederholte: „ich halte dich, ich laſſe dich nicht”. Sie erzaͤhlt
ferner: „ich hatte mich zu jener Zeit ganz entſchieden im Her¬
zen gegen Gott erklaͤrt: nimm mich nur hin, und fuͤhre mich
durch die Welt, wie es dem Heilande und dir gefaͤllt, und ſo
uͤbergebe ich mich dem Herrn, nicht halb, nicht dreiviertel, ſon¬
dern ganz.” Indeß der muͤhſam errungene Friede ihres Her¬
zens wurde bald wieder geſtoͤrt durch die Lectuͤre jener fanatiſch
myſtiſchen Traktaͤtlein, welche ſchon ſo viele Verwirrung und
Finſterniß in die Koͤpfe, ſo viele Gewiſſensangſt oder ſchwaͤr¬
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lich forderte ein ſolches Traktaͤtlein ſie zu jener rigoriſtiſchen

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[58/0066] Schmaͤhſucht derſelben ſcheiterte. Es kam mit ihr ſchon damals bei ihren erbaulichen Betrachtungen ſo weit, daß ſie die Naͤhe des Erloͤſers als eines ſteten Begleiters zu ſpuͤren glaubte, und daß ſie, in aſcetiſcher Selbſtpruͤfung ſich mit unverdienten Selbſtanklagen beſchwerend, in dem durch ihre Beklommenheit veranlaßten Herzklopfen eine Beſtaͤtigung des Liederverſes zu finden meinte: „Er klopfet fuͤr und fuͤr ſo ſtark an unſres Her¬ zens Thuͤr.” Im erzwungenen Ernſt einer ſchon damals exaltirten Stimmung empfand ſie ſelbſt fuͤr die unſchuldigen Jugendfreuden ſo wenig Sympathie mehr, daß ſie in heiteren geſelligen Kreiſen ihren bangen Gefuͤhlen durch Weinen Luft machen mußte, und daß ſie die Werbung eines jungen Mannes um ihre Hand entſchieden zuruͤckwies. Sie beſchaͤftigte ſich ſo eifrig mit den Aufgaben aus der Sonntagsſchule und mit weiblichen Arbeiten, daß ihr gar keine Zeit zur Erholung blieb, und die karge Koſt, mit welcher ſie ſich bei duͤrftigem Erwerbe begnuͤgen mußte, wirkte dazu mit, daß ſie ſich in koͤrperlicher Beziehung ſehr unwohl befand. Nach anhaltender religioͤſer Erregung begierig, ergriff ſie jede Gelegenheit, dieſelbe in ſich zu wecken und zu unterhalten, daher ſie nicht nur ſehr haͤufig die Kirche und pietiſtiſche Ver¬ ſammlungen beſuchte, ſondern ſich auch eine Menge frommer Spruͤche einpraͤgte. Sie glaubte nun erſt zur Erkenntniß der Wahrheit gelangt, gleichſam aus dem Seelenſchlafe der Welt¬ leute erwacht zu ſein, und es uͤberkam ſie dabei eine ſo große Freudigkeit, daß ſie oft auf die Worte der Predigten gar nicht mehr hoͤrte, ſondern bei dem Namen Jeſu jedesmal in ſich wiederholte: „ich halte dich, ich laſſe dich nicht”. Sie erzaͤhlt ferner: „ich hatte mich zu jener Zeit ganz entſchieden im Her¬ zen gegen Gott erklaͤrt: nimm mich nur hin, und fuͤhre mich durch die Welt, wie es dem Heilande und dir gefaͤllt, und ſo uͤbergebe ich mich dem Herrn, nicht halb, nicht dreiviertel, ſon¬ dern ganz.” Indeß der muͤhſam errungene Friede ihres Her¬ zens wurde bald wieder geſtoͤrt durch die Lectuͤre jener fanatiſch myſtiſchen Traktaͤtlein, welche ſchon ſo viele Verwirrung und Finſterniß in die Koͤpfe, ſo viele Gewiſſensangſt oder ſchwaͤr¬ meriſche Exaltation in die Gemuͤther gebracht haben. Nament¬ lich forderte ein ſolches Traktaͤtlein ſie zu jener rigoriſtiſchen

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/66>, abgerufen am 25.11.2024.