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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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Schnee bedeckte Straßen, welches die Folge hatte, daß
Mehrere Zehen von entzündeten Frostbeulen befallen wurden,
woran er in den nächsten Wochen sehr zu leiden hatte. Ver¬
gebens bemühte sich seine Frau, ihn einzuholen, und erst meh¬
reren Soldaten einer nahe belegenen Wache gelang es, ihn fest¬
zuhalten und nach seiner Wohnung zurückzuführen, woselbst
man ihn auf Stroh legte, seine Füße mit einem Stricke zu¬
sammenband, um ihn am Davonlaufen zu verhindern. Am
folgenden Tage erfolgte seine Versetzung in die Irrenabtheilung
der Charite.

Eine ins Einzelne gehende Schilderung des weiteren Ver¬
laufs seiner Krankheit während der nächsten Wochen würde
kein psychologisches Interesse gewähren, da der sinnlose Rede¬
schwall der Tobsüchtigen gewöhnlich alles Zusammenhanges er¬
mangelt, und daher jede Deutung der ganz zügellosen Ideen¬
associationen, welche sich in das zerrissene Bewußtseyn mit dem
größten Ungestüm drängen, völlig unmöglich macht. Zuweilen
war W. in ein stilles Hinbrüten versunken, und gab nur ab¬
gerissene Antworten auf vorgelegte Fragen; mehrere Tage und
Nächte brachte er aber in der fürchterlichsten Raserei zu, so
daß sein überlautes Brüllen in allen benachbarten Zimmern
wiederhallte, und die Ruhe der andern Kranken auf das Em¬
pfindlichste störte. Indeß gelang es doch durch die Anwendung
lauwarmer Bäder mit kalten Uebergießungen, so wie durch
gelinde Abführungen, ihn nach wenigen Wochen so weit zu
beruhigen, daß er nicht nur des Nachts einen erquickenden
Schlaf fand, sondern auch am Tage keine auffallende Aufre¬
gung mehr wahrnehmen ließ, vielmehr allgemach an die Ord¬
nung des Hauses sich gewöhnte. Doch weigerte er sich nicht
nur hartnäckig, an den üblichen geistigen und körperlichen Be¬
schäftigungen Theil zu nehmen, sondern verrieth auch in den
mit ihm geführten Gesprächen eine völlig verkehrte Auffassung
seines bisherigen Lebens, und wollte es namentlich nicht ein¬
räumen, daß er seine Erwerbthätigkeit zu seinem und seiner
Familie Schaden vernachlässigt habe.

Da während der nächsten Monate die in Anwendung
gesetzten Heilversuche zu keinem günstigen Ergebniß führten,
so entschloß ich mich im Juni, ihm die Brechweinsteinsalbe in

Schnee bedeckte Straßen, welches die Folge hatte, daß
Mehrere Zehen von entzuͤndeten Froſtbeulen befallen wurden,
woran er in den naͤchſten Wochen ſehr zu leiden hatte. Ver¬
gebens bemuͤhte ſich ſeine Frau, ihn einzuholen, und erſt meh¬
reren Soldaten einer nahe belegenen Wache gelang es, ihn feſt¬
zuhalten und nach ſeiner Wohnung zuruͤckzufuͤhren, woſelbſt
man ihn auf Stroh legte, ſeine Fuͤße mit einem Stricke zu¬
ſammenband, um ihn am Davonlaufen zu verhindern. Am
folgenden Tage erfolgte ſeine Verſetzung in die Irrenabtheilung
der Charité.

Eine ins Einzelne gehende Schilderung des weiteren Ver¬
laufs ſeiner Krankheit waͤhrend der naͤchſten Wochen wuͤrde
kein pſychologiſches Intereſſe gewaͤhren, da der ſinnloſe Rede¬
ſchwall der Tobſuͤchtigen gewoͤhnlich alles Zuſammenhanges er¬
mangelt, und daher jede Deutung der ganz zuͤgelloſen Ideen¬
aſſociationen, welche ſich in das zerriſſene Bewußtſeyn mit dem
groͤßten Ungeſtuͤm draͤngen, voͤllig unmoͤglich macht. Zuweilen
war W. in ein ſtilles Hinbruͤten verſunken, und gab nur ab¬
geriſſene Antworten auf vorgelegte Fragen; mehrere Tage und
Naͤchte brachte er aber in der fuͤrchterlichſten Raſerei zu, ſo
daß ſein uͤberlautes Bruͤllen in allen benachbarten Zimmern
wiederhallte, und die Ruhe der andern Kranken auf das Em¬
pfindlichſte ſtoͤrte. Indeß gelang es doch durch die Anwendung
lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen, ſo wie durch
gelinde Abfuͤhrungen, ihn nach wenigen Wochen ſo weit zu
beruhigen, daß er nicht nur des Nachts einen erquickenden
Schlaf fand, ſondern auch am Tage keine auffallende Aufre¬
gung mehr wahrnehmen ließ, vielmehr allgemach an die Ord¬
nung des Hauſes ſich gewoͤhnte. Doch weigerte er ſich nicht
nur hartnaͤckig, an den uͤblichen geiſtigen und koͤrperlichen Be¬
ſchaͤftigungen Theil zu nehmen, ſondern verrieth auch in den
mit ihm gefuͤhrten Geſpraͤchen eine voͤllig verkehrte Auffaſſung
ſeines bisherigen Lebens, und wollte es namentlich nicht ein¬
raͤumen, daß er ſeine Erwerbthaͤtigkeit zu ſeinem und ſeiner
Familie Schaden vernachlaͤſſigt habe.

Da waͤhrend der naͤchſten Monate die in Anwendung
geſetzten Heilverſuche zu keinem guͤnſtigen Ergebniß fuͤhrten,
ſo entſchloß ich mich im Juni, ihm die Brechweinſteinſalbe in

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[55/0063] Schnee bedeckte Straßen, welches die Folge hatte, daß Mehrere Zehen von entzuͤndeten Froſtbeulen befallen wurden, woran er in den naͤchſten Wochen ſehr zu leiden hatte. Ver¬ gebens bemuͤhte ſich ſeine Frau, ihn einzuholen, und erſt meh¬ reren Soldaten einer nahe belegenen Wache gelang es, ihn feſt¬ zuhalten und nach ſeiner Wohnung zuruͤckzufuͤhren, woſelbſt man ihn auf Stroh legte, ſeine Fuͤße mit einem Stricke zu¬ ſammenband, um ihn am Davonlaufen zu verhindern. Am folgenden Tage erfolgte ſeine Verſetzung in die Irrenabtheilung der Charité. Eine ins Einzelne gehende Schilderung des weiteren Ver¬ laufs ſeiner Krankheit waͤhrend der naͤchſten Wochen wuͤrde kein pſychologiſches Intereſſe gewaͤhren, da der ſinnloſe Rede¬ ſchwall der Tobſuͤchtigen gewoͤhnlich alles Zuſammenhanges er¬ mangelt, und daher jede Deutung der ganz zuͤgelloſen Ideen¬ aſſociationen, welche ſich in das zerriſſene Bewußtſeyn mit dem groͤßten Ungeſtuͤm draͤngen, voͤllig unmoͤglich macht. Zuweilen war W. in ein ſtilles Hinbruͤten verſunken, und gab nur ab¬ geriſſene Antworten auf vorgelegte Fragen; mehrere Tage und Naͤchte brachte er aber in der fuͤrchterlichſten Raſerei zu, ſo daß ſein uͤberlautes Bruͤllen in allen benachbarten Zimmern wiederhallte, und die Ruhe der andern Kranken auf das Em¬ pfindlichſte ſtoͤrte. Indeß gelang es doch durch die Anwendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen, ſo wie durch gelinde Abfuͤhrungen, ihn nach wenigen Wochen ſo weit zu beruhigen, daß er nicht nur des Nachts einen erquickenden Schlaf fand, ſondern auch am Tage keine auffallende Aufre¬ gung mehr wahrnehmen ließ, vielmehr allgemach an die Ord¬ nung des Hauſes ſich gewoͤhnte. Doch weigerte er ſich nicht nur hartnaͤckig, an den uͤblichen geiſtigen und koͤrperlichen Be¬ ſchaͤftigungen Theil zu nehmen, ſondern verrieth auch in den mit ihm gefuͤhrten Geſpraͤchen eine voͤllig verkehrte Auffaſſung ſeines bisherigen Lebens, und wollte es namentlich nicht ein¬ raͤumen, daß er ſeine Erwerbthaͤtigkeit zu ſeinem und ſeiner Familie Schaden vernachlaͤſſigt habe. Da waͤhrend der naͤchſten Monate die in Anwendung geſetzten Heilverſuche zu keinem guͤnſtigen Ergebniß fuͤhrten, ſo entſchloß ich mich im Juni, ihm die Brechweinſteinſalbe in

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/63>, abgerufen am 23.11.2024.