ihm als Abfall vom wahren Glauben erscheinen mußte, und da seine Selbstanklagen noch geschärft wurden durch bittere Vorwürfe über seinen Religionswechsel von hiesigen Freunden und von Verwandten in der Heimath, so ließ er sich weder durch Liebkosungen einiger Gemeindemitglieder, welche sich ihn gern erhalten wollten, noch durch Anspielungen in den Ver¬ sammlungen auf ihn als einen abtrünnigen Judas länger irre machen, sondern riß sich entschieden und auf immer von ihnen los. Das Bibellesen war ihm schon zum Bedürfniß gewor¬ den, und mit sich in seinen religiösen Begriffen uneins, hielt er eine eifrige Fortsetzung desselben für seine dringendste Pflicht, um durch fortgesetztes Forschen in der Schrift zur wahren Got¬ teserkenntniß und zum richtigen Urtheil über seine bisherigen, von ihm verkannten Irrthümer zu gelangen. Zwar vernach¬ lässigte er seine Erwerbsthätigkeit noch nicht, aber sein Sinn hatte sich doch schon den Weltverhältnissen zu sehr entfremdet, als daß die Reflexion über dieselben ihn noch gegen den all¬ mählig aufkeimenden Wahn hätte schützen können. Denn es fehlte seinem Geiste schon durchaus jene Klarheit, welche das Licht der religiösen Wahrheiten hätte ungetrübt in sich aufneh¬ men können; sein von Zweifeln und inneren Widersprüchen zerrissenes Denken war zur folgerichtigen Entwickelung jener Wahrheiten zu übereinstimmenden praktischen Begriffen völlig unfähig geworden.
Das Ebengesagte sprach sich besonders in einigen schrift¬ lichen Aufsätzen aus, welche W. während der letzten Monate vor dem Ausbruche seines Wahnsinns verfaßte. Nicht zufrie¬ den, den Inhalt der Bibel durch unablässiges Lesen derselben sich anzueignen, wollte er ihn auch zu bestimmten Begriffen ausprägen, und er benutzte deshalb mannigfache äußere Ver¬ anlassungen, welche sein religiöses Interesse erregend, ihn zu verschiedenartigen, oft sehr ausführlichen Betrachtungen darüber herausforderten. Insbesondere machte die Ausstellung des hei¬ ligen Rocks in Trier einen so tiefen Eindruck auf ihn, daß er als Schriftsteller dagegen auftreten, und nicht blos Artikel in Zeitungen einrücken lassen, sondern auch selbstständige Schrif¬ ten darüber in Druck geben wollte. Eben so empörte es ihn tief, als die Nachricht von dem Attentat auf Se. Majestät den
ihm als Abfall vom wahren Glauben erſcheinen mußte, und da ſeine Selbſtanklagen noch geſchaͤrft wurden durch bittere Vorwuͤrfe uͤber ſeinen Religionswechſel von hieſigen Freunden und von Verwandten in der Heimath, ſo ließ er ſich weder durch Liebkoſungen einiger Gemeindemitglieder, welche ſich ihn gern erhalten wollten, noch durch Anſpielungen in den Ver¬ ſammlungen auf ihn als einen abtruͤnnigen Judas laͤnger irre machen, ſondern riß ſich entſchieden und auf immer von ihnen los. Das Bibelleſen war ihm ſchon zum Beduͤrfniß gewor¬ den, und mit ſich in ſeinen religioͤſen Begriffen uneins, hielt er eine eifrige Fortſetzung deſſelben fuͤr ſeine dringendſte Pflicht, um durch fortgeſetztes Forſchen in der Schrift zur wahren Got¬ teserkenntniß und zum richtigen Urtheil uͤber ſeine bisherigen, von ihm verkannten Irrthuͤmer zu gelangen. Zwar vernach¬ laͤſſigte er ſeine Erwerbsthaͤtigkeit noch nicht, aber ſein Sinn hatte ſich doch ſchon den Weltverhaͤltniſſen zu ſehr entfremdet, als daß die Reflexion uͤber dieſelben ihn noch gegen den all¬ maͤhlig aufkeimenden Wahn haͤtte ſchuͤtzen koͤnnen. Denn es fehlte ſeinem Geiſte ſchon durchaus jene Klarheit, welche das Licht der religioͤſen Wahrheiten haͤtte ungetruͤbt in ſich aufneh¬ men koͤnnen; ſein von Zweifeln und inneren Widerſpruͤchen zerriſſenes Denken war zur folgerichtigen Entwickelung jener Wahrheiten zu uͤbereinſtimmenden praktiſchen Begriffen voͤllig unfaͤhig geworden.
Das Ebengeſagte ſprach ſich beſonders in einigen ſchrift¬ lichen Aufſaͤtzen aus, welche W. waͤhrend der letzten Monate vor dem Ausbruche ſeines Wahnſinns verfaßte. Nicht zufrie¬ den, den Inhalt der Bibel durch unablaͤſſiges Leſen derſelben ſich anzueignen, wollte er ihn auch zu beſtimmten Begriffen auspraͤgen, und er benutzte deshalb mannigfache aͤußere Ver¬ anlaſſungen, welche ſein religioͤſes Intereſſe erregend, ihn zu verſchiedenartigen, oft ſehr ausfuͤhrlichen Betrachtungen daruͤber herausforderten. Insbeſondere machte die Ausſtellung des hei¬ ligen Rocks in Trier einen ſo tiefen Eindruck auf ihn, daß er als Schriftſteller dagegen auftreten, und nicht blos Artikel in Zeitungen einruͤcken laſſen, ſondern auch ſelbſtſtaͤndige Schrif¬ ten daruͤber in Druck geben wollte. Eben ſo empoͤrte es ihn tief, als die Nachricht von dem Attentat auf Se. Majeſtaͤt den
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ihm als Abfall vom wahren Glauben erſcheinen mußte, und
da ſeine Selbſtanklagen noch geſchaͤrft wurden durch bittere
Vorwuͤrfe uͤber ſeinen Religionswechſel von hieſigen Freunden
und von Verwandten in der Heimath, ſo ließ er ſich weder
durch Liebkoſungen einiger Gemeindemitglieder, welche ſich ihn
gern erhalten wollten, noch durch Anſpielungen in den Ver¬
ſammlungen auf ihn als einen abtruͤnnigen Judas laͤnger irre
machen, ſondern riß ſich entſchieden und auf immer von ihnen
los. Das Bibelleſen war ihm ſchon zum Beduͤrfniß gewor¬
den, und mit ſich in ſeinen religioͤſen Begriffen uneins, hielt
er eine eifrige Fortſetzung deſſelben fuͤr ſeine dringendſte Pflicht,
um durch fortgeſetztes Forſchen in der Schrift zur wahren Got¬
teserkenntniß und zum richtigen Urtheil uͤber ſeine bisherigen,
von ihm verkannten Irrthuͤmer zu gelangen. Zwar vernach¬
laͤſſigte er ſeine Erwerbsthaͤtigkeit noch nicht, aber ſein Sinn
hatte ſich doch ſchon den Weltverhaͤltniſſen zu ſehr entfremdet,
als daß die Reflexion uͤber dieſelben ihn noch gegen den all¬
maͤhlig aufkeimenden Wahn haͤtte ſchuͤtzen koͤnnen. Denn es
fehlte ſeinem Geiſte ſchon durchaus jene Klarheit, welche das
Licht der religioͤſen Wahrheiten haͤtte ungetruͤbt in ſich aufneh¬
men koͤnnen; ſein von Zweifeln und inneren Widerſpruͤchen
zerriſſenes Denken war zur folgerichtigen Entwickelung jener
Wahrheiten zu uͤbereinſtimmenden praktiſchen Begriffen voͤllig
unfaͤhig geworden.
Das Ebengeſagte ſprach ſich beſonders in einigen ſchrift¬
lichen Aufſaͤtzen aus, welche W. waͤhrend der letzten Monate
vor dem Ausbruche ſeines Wahnſinns verfaßte. Nicht zufrie¬
den, den Inhalt der Bibel durch unablaͤſſiges Leſen derſelben
ſich anzueignen, wollte er ihn auch zu beſtimmten Begriffen
auspraͤgen, und er benutzte deshalb mannigfache aͤußere Ver¬
anlaſſungen, welche ſein religioͤſes Intereſſe erregend, ihn zu
verſchiedenartigen, oft ſehr ausfuͤhrlichen Betrachtungen daruͤber
herausforderten. Insbeſondere machte die Ausſtellung des hei¬
ligen Rocks in Trier einen ſo tiefen Eindruck auf ihn, daß
er als Schriftſteller dagegen auftreten, und nicht blos Artikel
in Zeitungen einruͤcken laſſen, ſondern auch ſelbſtſtaͤndige Schrif¬
ten daruͤber in Druck geben wollte. Eben ſo empoͤrte es ihn
tief, als die Nachricht von dem Attentat auf Se. Majeſtaͤt den
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/58>, abgerufen am 26.07.2024.
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