Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.dienstlichen Versammlungen derselben zuerst seltener, dann dienſtlichen Verſammlungen derſelben zuerſt ſeltener, dann <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0052" n="44"/> dienſtlichen Verſammlungen derſelben zuerſt ſeltener, dann<lb/> haͤufiger beizuwohnen. Indeß dauerte es doch lange, ehe W.<lb/> der neuen Secte ſeine innere Ueberzeugung und ſein ganzes<lb/> Herz zuwandte. Schon der allzu ſehr gehaͤufte Gottesdienſt,<lb/> welcher an den Sonntagen zweimal und außerdem noch an<lb/> mehreren Wochenabenden gehalten wurde, uͤberbot ſeine Faſ¬<lb/> ſungsgabe ſo ſehr, daß er an manchen Tagen nicht mehr<lb/> wußte, was er gehoͤrt hatte, und er ſeinen Kopf mit einem<lb/> von Speiſen uͤberfuͤllten Magen verglich. Noch mehr wurde<lb/> ſein Mißfallen erregt durch das zelotiſche Eifern gegen den<lb/> als Suͤnde verſchrieenen Beſuch erlaubter Vergnuͤgungsorte,<lb/> durch die in der Gemeinde haͤufig ausbrechenden Streitigkei¬<lb/> ten uͤber die richtige Auslegung der Bibel, am meiſten aber<lb/> durch die oft gehoͤrte Behauptung, daß die anderen Chriſten<lb/> nicht ſeelig werden koͤnnten, weil ſie nicht die wahre Taufe<lb/> empfangen haͤtten, und deshalb nicht nach dem Evangelium<lb/> lebten. W. fuͤhlte ſich dadurch ſo ſehr zuruͤckgeſtoßen, daß er<lb/> nur um ſo eifriger den verpoͤnten Beſuch der Kirchen fort¬<lb/> ſetzte, und wahrſcheinlich wuͤrde ſein damals noch geſundes Ur¬<lb/> theil ihn gegen die hereinbrechende Gefahr des Wahnſinns ge¬<lb/> ſchuͤtzt haben, wenn nicht die zu jedem fanatiſchen Sectengeiſte<lb/> ſich hinzugeſellende religioͤſe Schwaͤrmerei auch in ſein Ge¬<lb/> muͤth ſich heimlich eingeſchlichen und daſſelbe zuletzt beherrſcht<lb/> haͤtte. So geſchah es, daß er aller urſpruͤnglichen Abneigung<lb/> gegen die Wiedertaͤufer ungeachtet dennoch zuletzt durch einen<lb/> unwiderſtehlichen Drang zu ihnen ſich hingezogen fuͤhlte und<lb/> ihren Lehren nun ein offenes Ohr lieh, zumal da oft genug<lb/> Emiſſaire an ihn abgeſchickt wurden, um ihn zu bearbeiten.<lb/> Immer noch machte er dieſen genug zu ſchaffen, denn wie<lb/> oft ſie ihm auch begreiflich zu machen ſuchten, daß der Ritus<lb/> der Taufe, wie ſie an Chriſtus im Jordan vollzogen worden,<lb/> das Vorbild zur Wiederholung dieſes Sacraments an Erwach¬<lb/> ſenen werden muͤſſe, welche nur dadurch, ſo wie durch den<lb/> rechten Glauben ſeelig werden, außerdem aber der Verdamm¬<lb/> niß nicht entgehen koͤnnten; ſo wollte ihm dies doch keines¬<lb/> weges einleuchten, da er ſtandhaft ſeine alte Ueberzeugung<lb/> vertheidigte, daß ein rechtſchaffener Wandel die Hauptbedin¬<lb/> gung zur Seeligkeit, und ohne ihn der Glaube nur Heuchelei ſei.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [44/0052]
dienſtlichen Verſammlungen derſelben zuerſt ſeltener, dann
haͤufiger beizuwohnen. Indeß dauerte es doch lange, ehe W.
der neuen Secte ſeine innere Ueberzeugung und ſein ganzes
Herz zuwandte. Schon der allzu ſehr gehaͤufte Gottesdienſt,
welcher an den Sonntagen zweimal und außerdem noch an
mehreren Wochenabenden gehalten wurde, uͤberbot ſeine Faſ¬
ſungsgabe ſo ſehr, daß er an manchen Tagen nicht mehr
wußte, was er gehoͤrt hatte, und er ſeinen Kopf mit einem
von Speiſen uͤberfuͤllten Magen verglich. Noch mehr wurde
ſein Mißfallen erregt durch das zelotiſche Eifern gegen den
als Suͤnde verſchrieenen Beſuch erlaubter Vergnuͤgungsorte,
durch die in der Gemeinde haͤufig ausbrechenden Streitigkei¬
ten uͤber die richtige Auslegung der Bibel, am meiſten aber
durch die oft gehoͤrte Behauptung, daß die anderen Chriſten
nicht ſeelig werden koͤnnten, weil ſie nicht die wahre Taufe
empfangen haͤtten, und deshalb nicht nach dem Evangelium
lebten. W. fuͤhlte ſich dadurch ſo ſehr zuruͤckgeſtoßen, daß er
nur um ſo eifriger den verpoͤnten Beſuch der Kirchen fort¬
ſetzte, und wahrſcheinlich wuͤrde ſein damals noch geſundes Ur¬
theil ihn gegen die hereinbrechende Gefahr des Wahnſinns ge¬
ſchuͤtzt haben, wenn nicht die zu jedem fanatiſchen Sectengeiſte
ſich hinzugeſellende religioͤſe Schwaͤrmerei auch in ſein Ge¬
muͤth ſich heimlich eingeſchlichen und daſſelbe zuletzt beherrſcht
haͤtte. So geſchah es, daß er aller urſpruͤnglichen Abneigung
gegen die Wiedertaͤufer ungeachtet dennoch zuletzt durch einen
unwiderſtehlichen Drang zu ihnen ſich hingezogen fuͤhlte und
ihren Lehren nun ein offenes Ohr lieh, zumal da oft genug
Emiſſaire an ihn abgeſchickt wurden, um ihn zu bearbeiten.
Immer noch machte er dieſen genug zu ſchaffen, denn wie
oft ſie ihm auch begreiflich zu machen ſuchten, daß der Ritus
der Taufe, wie ſie an Chriſtus im Jordan vollzogen worden,
das Vorbild zur Wiederholung dieſes Sacraments an Erwach¬
ſenen werden muͤſſe, welche nur dadurch, ſo wie durch den
rechten Glauben ſeelig werden, außerdem aber der Verdamm¬
niß nicht entgehen koͤnnten; ſo wollte ihm dies doch keines¬
weges einleuchten, da er ſtandhaft ſeine alte Ueberzeugung
vertheidigte, daß ein rechtſchaffener Wandel die Hauptbedin¬
gung zur Seeligkeit, und ohne ihn der Glaube nur Heuchelei ſei.
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