eifrige Andachtsübungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbesuch die Gnade Gottes zur Vergebung seiner Sünden zu erflehen. Aber schon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedrückt, als daß er sich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen des himmlischen Vaters hätte aufrichten können; immer schwerer lastete auf ihm die falsche Selbstanklage, welche bald den letzten Rest des Frohsinns von ihm verscheuchte. Er mied nun alle Ver¬ gnügungen, und konnte nur in eifriger Thätigkeit noch eine leid¬ liche Haltung sich erringen.
Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten Schwester zusammenwohnte, war, ohne ausschweifend zu sein, doch dem Vergnügen ergeben, und vertheidigte sich gegen die von seinem Bruder ihm gemachte Zurechtweisung mit der Entschuldi¬ gung, so lange man jung sei, müsse man das Leben genießen. R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬ gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das heilige Abendmahl zu genießen. Von mystischen Vorstellungen erfüllt, wusch R. sich vorher die Füße, weil Christus dasselbe bei seinen Jüngern vor der Einsetzung des Abendmahls gethan, und er hätte auch gern seinen Bruder dazu bewogen, wenn dieser nicht schon angekleidet gewesen wäre. Zu seiner großen Freude erfuhr er von demselben, daß der Gottesdienst auf ihn einen tiefen Ein¬ druck gemacht habe, daß er Reue über seinen bisherigen Leicht¬ sinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche besuchen wolle, wel¬ ches er auch that. Hieraus schöpfte R. die Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, seine drei Schwestern zu einer Sinnesänderung zu bewegen. Dies lag ihm um so mehr am Herzen, als zwi¬ schen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬ züglich der Plan des R. Veranlassung gab, die ganze Familie in einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos seines ver¬ armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterstützun¬ gen seiner Söhne lebte. Jene Zwistigkeiten waren ohne alle Be¬ deutung, da es durchaus zu keinen schlimmen Auftritten kam; dennoch betrübte R. sich hierüber tief, weil er bei seinen Schwe¬ stern einen Mangel an christlicher Gesinnung wahrzunehmen glaub¬ te, welche sich nach seiner Ueberzeugung durch einen lebendigen Wetteifer in gegenseitigen Liebesdiensten und Aufopferungen zu erkennen geben sollte. Besonders kränkte ihn das Benehmen
eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbeſuch die Gnade Gottes zur Vergebung ſeiner Suͤnden zu erflehen. Aber ſchon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedruͤckt, als daß er ſich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen des himmliſchen Vaters haͤtte aufrichten koͤnnen; immer ſchwerer laſtete auf ihm die falſche Selbſtanklage, welche bald den letzten Reſt des Frohſinns von ihm verſcheuchte. Er mied nun alle Ver¬ gnuͤgungen, und konnte nur in eifriger Thaͤtigkeit noch eine leid¬ liche Haltung ſich erringen.
Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten Schweſter zuſammenwohnte, war, ohne ausſchweifend zu ſein, doch dem Vergnuͤgen ergeben, und vertheidigte ſich gegen die von ſeinem Bruder ihm gemachte Zurechtweiſung mit der Entſchuldi¬ gung, ſo lange man jung ſei, muͤſſe man das Leben genießen. R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬ gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das heilige Abendmahl zu genießen. Von myſtiſchen Vorſtellungen erfuͤllt, wuſch R. ſich vorher die Fuͤße, weil Chriſtus daſſelbe bei ſeinen Juͤngern vor der Einſetzung des Abendmahls gethan, und er haͤtte auch gern ſeinen Bruder dazu bewogen, wenn dieſer nicht ſchon angekleidet geweſen waͤre. Zu ſeiner großen Freude erfuhr er von demſelben, daß der Gottesdienſt auf ihn einen tiefen Ein¬ druck gemacht habe, daß er Reue uͤber ſeinen bisherigen Leicht¬ ſinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche beſuchen wolle, wel¬ ches er auch that. Hieraus ſchoͤpfte R. die Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, ſeine drei Schweſtern zu einer Sinnesaͤnderung zu bewegen. Dies lag ihm um ſo mehr am Herzen, als zwi¬ ſchen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬ zuͤglich der Plan des R. Veranlaſſung gab, die ganze Familie in einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos ſeines ver¬ armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterſtuͤtzun¬ gen ſeiner Soͤhne lebte. Jene Zwiſtigkeiten waren ohne alle Be¬ deutung, da es durchaus zu keinen ſchlimmen Auftritten kam; dennoch betruͤbte R. ſich hieruͤber tief, weil er bei ſeinen Schwe¬ ſtern einen Mangel an chriſtlicher Geſinnung wahrzunehmen glaub¬ te, welche ſich nach ſeiner Ueberzeugung durch einen lebendigen Wetteifer in gegenſeitigen Liebesdienſten und Aufopferungen zu erkennen geben ſollte. Beſonders kraͤnkte ihn das Benehmen
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eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbeſuch
die Gnade Gottes zur Vergebung ſeiner Suͤnden zu erflehen. Aber
ſchon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedruͤckt, als daß
er ſich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen
des himmliſchen Vaters haͤtte aufrichten koͤnnen; immer ſchwerer
laſtete auf ihm die falſche Selbſtanklage, welche bald den letzten
Reſt des Frohſinns von ihm verſcheuchte. Er mied nun alle Ver¬
gnuͤgungen, und konnte nur in eifriger Thaͤtigkeit noch eine leid¬
liche Haltung ſich erringen.
Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten
Schweſter zuſammenwohnte, war, ohne ausſchweifend zu ſein,
doch dem Vergnuͤgen ergeben, und vertheidigte ſich gegen die von
ſeinem Bruder ihm gemachte Zurechtweiſung mit der Entſchuldi¬
gung, ſo lange man jung ſei, muͤſſe man das Leben genießen.
R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬
gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das
heilige Abendmahl zu genießen. Von myſtiſchen Vorſtellungen
erfuͤllt, wuſch R. ſich vorher die Fuͤße, weil Chriſtus daſſelbe bei
ſeinen Juͤngern vor der Einſetzung des Abendmahls gethan, und
er haͤtte auch gern ſeinen Bruder dazu bewogen, wenn dieſer nicht
ſchon angekleidet geweſen waͤre. Zu ſeiner großen Freude erfuhr
er von demſelben, daß der Gottesdienſt auf ihn einen tiefen Ein¬
druck gemacht habe, daß er Reue uͤber ſeinen bisherigen Leicht¬
ſinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche beſuchen wolle, wel¬
ches er auch that. Hieraus ſchoͤpfte R. die Hoffnung, daß es ihm
gelingen werde, ſeine drei Schweſtern zu einer Sinnesaͤnderung
zu bewegen. Dies lag ihm um ſo mehr am Herzen, als zwi¬
ſchen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬
zuͤglich der Plan des R. Veranlaſſung gab, die ganze Familie in
einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos ſeines ver¬
armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterſtuͤtzun¬
gen ſeiner Soͤhne lebte. Jene Zwiſtigkeiten waren ohne alle Be¬
deutung, da es durchaus zu keinen ſchlimmen Auftritten kam;
dennoch betruͤbte R. ſich hieruͤber tief, weil er bei ſeinen Schwe¬
ſtern einen Mangel an chriſtlicher Geſinnung wahrzunehmen glaub¬
te, welche ſich nach ſeiner Ueberzeugung durch einen lebendigen
Wetteifer in gegenſeitigen Liebesdienſten und Aufopferungen zu
erkennen geben ſollte. Beſonders kraͤnkte ihn das Benehmen
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/39>, abgerufen am 26.07.2024.
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