zagter Stimmung beim Anblick so vieler häuslichen Leiden befangen, mied er nicht nur jede Gelegenheit zur Aufheite¬ rung, sondern bestärkte sich auch in der resignirenden Vor¬ stellung, daß Gott ihn zum Dulden bestimmt habe. Oft brach er über sein Unglück in Thränen aus, ja beim Anblick der Sonne fragte er sich bisweilen, ob er werth sei, daß sie ihn bescheine.
Durch entschiedene Vorliebe für das Gewerbe seines Va¬ ters ließ er sich bestimmen, im 18. Jahre bei einem Zimmer¬ meister in die Lehre zu treten. Er verhehlte sich zwar die mit diesem Geschäft verbundene Lebensgefahr nicht, welche auf seinen furchtsamen Sinn schon im Voraus einen tiefen Ein¬ druck machte, aber tröstete sich mit der Zuversicht, es könne ihm gegen den göttlichen Rathschluß nichts Schlimmes be¬ gegnen. Dennoch wurde er jedesmal von Todesfurcht befal¬ len, wenn er in gefährlichen Lagen sich befand, und von star¬ kem Schwindel ergriffen, wagte er nicht, über freischwebende Balken zu gehen, sondern kroch über sie hinweg, und suchte sich überhaupt mit jeder erdenklichen Vorsicht zu schützen. Als er nach beendigter vierjähriger Lehrzeit bei einem anderen Meister in Dienst getreten war, erschütterte dessen plötzlicher Tod ihn tief, da die Besorgniß immerfort in ihm er¬ wachte, daß auch er leicht ein schnelles Ende finden könne. Anfangs war es nur die Liebe zum Leben, welche sich in ihm gegen diese Vorstellung empörte; später gesellte sich aber noch die Besorgniß hinzu, daß der Tod ihn unvorbereitet er¬ eilen könne, und er alsdann der ewigen Seeligkeit verlustig gehen müsse.
Im 22. Jahre siedelte er sich nach Berlin über, wo¬ selbst er, durch Fleiß, Tüchtigkeit und gute Aufführung aus¬ gezeichnet, stets eine hinreichende Beschäftigung fand, in wel¬ cher er sich durch mannigfache körperliche Beschwerden nicht stören ließ. An die Stelle des oben erwähnten Nasenblutens traten nämlich häufig wiederkehrende Erscheinungen eines hef¬ tigen Blutandranges nach dem Kopfe und der Brust, starkes Herzklopfen, heftiges Kopfweh, Schwindel und Flimmern vor den Augen, wovon ihn weder widerholte Aderlässe noch andere Heilmittel gründlich befreiten. Seine Plagen wurden noch
zagter Stimmung beim Anblick ſo vieler haͤuslichen Leiden befangen, mied er nicht nur jede Gelegenheit zur Aufheite¬ rung, ſondern beſtaͤrkte ſich auch in der reſignirenden Vor¬ ſtellung, daß Gott ihn zum Dulden beſtimmt habe. Oft brach er uͤber ſein Ungluͤck in Thraͤnen aus, ja beim Anblick der Sonne fragte er ſich bisweilen, ob er werth ſei, daß ſie ihn beſcheine.
Durch entſchiedene Vorliebe fuͤr das Gewerbe ſeines Va¬ ters ließ er ſich beſtimmen, im 18. Jahre bei einem Zimmer¬ meiſter in die Lehre zu treten. Er verhehlte ſich zwar die mit dieſem Geſchaͤft verbundene Lebensgefahr nicht, welche auf ſeinen furchtſamen Sinn ſchon im Voraus einen tiefen Ein¬ druck machte, aber troͤſtete ſich mit der Zuverſicht, es koͤnne ihm gegen den goͤttlichen Rathſchluß nichts Schlimmes be¬ gegnen. Dennoch wurde er jedesmal von Todesfurcht befal¬ len, wenn er in gefaͤhrlichen Lagen ſich befand, und von ſtar¬ kem Schwindel ergriffen, wagte er nicht, uͤber freiſchwebende Balken zu gehen, ſondern kroch uͤber ſie hinweg, und ſuchte ſich uͤberhaupt mit jeder erdenklichen Vorſicht zu ſchuͤtzen. Als er nach beendigter vierjaͤhriger Lehrzeit bei einem anderen Meiſter in Dienſt getreten war, erſchuͤtterte deſſen ploͤtzlicher Tod ihn tief, da die Beſorgniß immerfort in ihm er¬ wachte, daß auch er leicht ein ſchnelles Ende finden koͤnne. Anfangs war es nur die Liebe zum Leben, welche ſich in ihm gegen dieſe Vorſtellung empoͤrte; ſpaͤter geſellte ſich aber noch die Beſorgniß hinzu, daß der Tod ihn unvorbereitet er¬ eilen koͤnne, und er alsdann der ewigen Seeligkeit verluſtig gehen muͤſſe.
Im 22. Jahre ſiedelte er ſich nach Berlin uͤber, wo¬ ſelbſt er, durch Fleiß, Tuͤchtigkeit und gute Auffuͤhrung aus¬ gezeichnet, ſtets eine hinreichende Beſchaͤftigung fand, in wel¬ cher er ſich durch mannigfache koͤrperliche Beſchwerden nicht ſtoͤren ließ. An die Stelle des oben erwaͤhnten Naſenblutens traten naͤmlich haͤufig wiederkehrende Erſcheinungen eines hef¬ tigen Blutandranges nach dem Kopfe und der Bruſt, ſtarkes Herzklopfen, heftiges Kopfweh, Schwindel und Flimmern vor den Augen, wovon ihn weder widerholte Aderlaͤſſe noch andere Heilmittel gruͤndlich befreiten. Seine Plagen wurden noch
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zagter Stimmung beim Anblick ſo vieler haͤuslichen Leiden
befangen, mied er nicht nur jede Gelegenheit zur Aufheite¬
rung, ſondern beſtaͤrkte ſich auch in der reſignirenden Vor¬
ſtellung, daß Gott ihn zum Dulden beſtimmt habe. Oft brach
er uͤber ſein Ungluͤck in Thraͤnen aus, ja beim Anblick der
Sonne fragte er ſich bisweilen, ob er werth ſei, daß ſie
ihn beſcheine.
Durch entſchiedene Vorliebe fuͤr das Gewerbe ſeines Va¬
ters ließ er ſich beſtimmen, im 18. Jahre bei einem Zimmer¬
meiſter in die Lehre zu treten. Er verhehlte ſich zwar die
mit dieſem Geſchaͤft verbundene Lebensgefahr nicht, welche auf
ſeinen furchtſamen Sinn ſchon im Voraus einen tiefen Ein¬
druck machte, aber troͤſtete ſich mit der Zuverſicht, es koͤnne
ihm gegen den goͤttlichen Rathſchluß nichts Schlimmes be¬
gegnen. Dennoch wurde er jedesmal von Todesfurcht befal¬
len, wenn er in gefaͤhrlichen Lagen ſich befand, und von ſtar¬
kem Schwindel ergriffen, wagte er nicht, uͤber freiſchwebende
Balken zu gehen, ſondern kroch uͤber ſie hinweg, und ſuchte
ſich uͤberhaupt mit jeder erdenklichen Vorſicht zu ſchuͤtzen.
Als er nach beendigter vierjaͤhriger Lehrzeit bei einem anderen
Meiſter in Dienſt getreten war, erſchuͤtterte deſſen ploͤtzlicher
Tod ihn tief, da die Beſorgniß immerfort in ihm er¬
wachte, daß auch er leicht ein ſchnelles Ende finden koͤnne.
Anfangs war es nur die Liebe zum Leben, welche ſich in
ihm gegen dieſe Vorſtellung empoͤrte; ſpaͤter geſellte ſich aber
noch die Beſorgniß hinzu, daß der Tod ihn unvorbereitet er¬
eilen koͤnne, und er alsdann der ewigen Seeligkeit verluſtig
gehen muͤſſe.
Im 22. Jahre ſiedelte er ſich nach Berlin uͤber, wo¬
ſelbſt er, durch Fleiß, Tuͤchtigkeit und gute Auffuͤhrung aus¬
gezeichnet, ſtets eine hinreichende Beſchaͤftigung fand, in wel¬
cher er ſich durch mannigfache koͤrperliche Beſchwerden nicht
ſtoͤren ließ. An die Stelle des oben erwaͤhnten Naſenblutens
traten naͤmlich haͤufig wiederkehrende Erſcheinungen eines hef¬
tigen Blutandranges nach dem Kopfe und der Bruſt, ſtarkes
Herzklopfen, heftiges Kopfweh, Schwindel und Flimmern vor
den Augen, wovon ihn weder widerholte Aderlaͤſſe noch andere
Heilmittel gruͤndlich befreiten. Seine Plagen wurden noch
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/36>, abgerufen am 16.02.2025.
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