schon eher zugeben, daß gerade sie das höchste Maaß eines heißen Verlangens nach dem verlorenen Seelenfrieden bezeich¬ nen, welche Erklärung insbesondere darin ihre Rechtfertigung findet, daß gewöhnlich gutgeartete Menschen in irrsinniger Bethörung sich mit falschen Selbstanklagen überhäufen, eben weil ihr zartes Gewissen am tiefsten durch Gemüthsleiden er¬ schüttert wird. Aber weniger deutlich dürfte es auf den ersten Anblick sein, wie der Teufelswahn der unmittelbare Ausdruck einer ungestillten maaßlosen Sehnsucht sein könne. Eine aus¬ führliche Erklärung hierüber muß ich mir für die Zukunft ver¬ sparen, weil sich nicht mit wenigen Worten eine deutliche Be¬ zeichnung dafür geben läßt, daß der Glaube an den Teufel selbst schon eine Entartung der Ehrfurcht vor dem göttlichen Gesetz ist, in sofern nämlich dem unaufgeklärten religiösen Be¬ wußtseyn die Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung als ein hochnothpeinliches Halsgericht nach dem Muster der Constitu¬ tio Criminalis Carolina erscheint, bei welchem der Teufel das Amt eines Schergen, Büttels oder Folterknechts versieht. In ihrer ursprünglichen Bedeutung ist die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des göttlichen Gesetzes die Sehnsucht nach der nie vollständig zu erreichenden Erfüllung desselben, weil der Mensch im tiefsten Selbstbewußtsein die durch die Majestät des Ge¬ wissens bekräftigte Nothwendigkeit erkennt, das Gesetz Gottes als ursprüngliche Bedingung der geistig sittlichen Vervollkomm¬ nung, als die ewige Grundlage seines freien Strebens nach dem Unendlichen zu erfüllen. In dieser wesentlichen Bedeu¬ tung kann das göttliche Gesetz nur der aufgeklärten Frömmig¬ keit erscheinen, welche demselben als der Quelle alles Heils einen liebenden Gehorsam weiht; aber der im Aberglauben berauschte Geist wird durch den verdüsternden Schwindel seiner Gedanken dergestalt bethört, daß er nur die fratzenhaften Zerr¬ bilder der Hölle erblickt, wo vor dem klaren Blick des kindlich frohen Glaubens die Schönheit der göttlichen Weltordnung im reinsten Glanze des Himmels strahlt.
ſchon eher zugeben, daß gerade ſie das hoͤchſte Maaß eines heißen Verlangens nach dem verlorenen Seelenfrieden bezeich¬ nen, welche Erklaͤrung insbeſondere darin ihre Rechtfertigung findet, daß gewoͤhnlich gutgeartete Menſchen in irrſinniger Bethoͤrung ſich mit falſchen Selbſtanklagen uͤberhaͤufen, eben weil ihr zartes Gewiſſen am tiefſten durch Gemuͤthsleiden er¬ ſchuͤttert wird. Aber weniger deutlich duͤrfte es auf den erſten Anblick ſein, wie der Teufelswahn der unmittelbare Ausdruck einer ungeſtillten maaßloſen Sehnſucht ſein koͤnne. Eine aus¬ fuͤhrliche Erklaͤrung hieruͤber muß ich mir fuͤr die Zukunft ver¬ ſparen, weil ſich nicht mit wenigen Worten eine deutliche Be¬ zeichnung dafuͤr geben laͤßt, daß der Glaube an den Teufel ſelbſt ſchon eine Entartung der Ehrfurcht vor dem goͤttlichen Geſetz iſt, in ſofern naͤmlich dem unaufgeklaͤrten religioͤſen Be¬ wußtſeyn die Gerechtigkeit der goͤttlichen Weltordnung als ein hochnothpeinliches Halsgericht nach dem Muſter der Constitu¬ tio Criminalis Carolina erſcheint, bei welchem der Teufel das Amt eines Schergen, Buͤttels oder Folterknechts verſieht. In ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung iſt die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des goͤttlichen Geſetzes die Sehnſucht nach der nie vollſtaͤndig zu erreichenden Erfuͤllung deſſelben, weil der Menſch im tiefſten Selbſtbewußtſein die durch die Majeſtaͤt des Ge¬ wiſſens bekraͤftigte Nothwendigkeit erkennt, das Geſetz Gottes als urſpruͤngliche Bedingung der geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬ nung, als die ewige Grundlage ſeines freien Strebens nach dem Unendlichen zu erfuͤllen. In dieſer weſentlichen Bedeu¬ tung kann das goͤttliche Geſetz nur der aufgeklaͤrten Froͤmmig¬ keit erſcheinen, welche demſelben als der Quelle alles Heils einen liebenden Gehorſam weiht; aber der im Aberglauben berauſchte Geiſt wird durch den verduͤſternden Schwindel ſeiner Gedanken dergeſtalt bethoͤrt, daß er nur die fratzenhaften Zerr¬ bilder der Hoͤlle erblickt, wo vor dem klaren Blick des kindlich frohen Glaubens die Schoͤnheit der goͤttlichen Weltordnung im reinſten Glanze des Himmels ſtrahlt.
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ſchon eher zugeben, daß gerade ſie das hoͤchſte Maaß eines
heißen Verlangens nach dem verlorenen Seelenfrieden bezeich¬
nen, welche Erklaͤrung insbeſondere darin ihre Rechtfertigung
findet, daß gewoͤhnlich gutgeartete Menſchen in irrſinniger
Bethoͤrung ſich mit falſchen Selbſtanklagen uͤberhaͤufen, eben
weil ihr zartes Gewiſſen am tiefſten durch Gemuͤthsleiden er¬
ſchuͤttert wird. Aber weniger deutlich duͤrfte es auf den erſten
Anblick ſein, wie der Teufelswahn der unmittelbare Ausdruck
einer ungeſtillten maaßloſen Sehnſucht ſein koͤnne. Eine aus¬
fuͤhrliche Erklaͤrung hieruͤber muß ich mir fuͤr die Zukunft ver¬
ſparen, weil ſich nicht mit wenigen Worten eine deutliche Be¬
zeichnung dafuͤr geben laͤßt, daß der Glaube an den Teufel
ſelbſt ſchon eine Entartung der Ehrfurcht vor dem goͤttlichen
Geſetz iſt, in ſofern naͤmlich dem unaufgeklaͤrten religioͤſen Be¬
wußtſeyn die Gerechtigkeit der goͤttlichen Weltordnung als ein
hochnothpeinliches Halsgericht nach dem Muſter der Constitu¬
tio Criminalis Carolina erſcheint, bei welchem der Teufel
das Amt eines Schergen, Buͤttels oder Folterknechts verſieht.
In ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung iſt die Ehrfurcht vor der
Heiligkeit des goͤttlichen Geſetzes die Sehnſucht nach der nie
vollſtaͤndig zu erreichenden Erfuͤllung deſſelben, weil der Menſch
im tiefſten Selbſtbewußtſein die durch die Majeſtaͤt des Ge¬
wiſſens bekraͤftigte Nothwendigkeit erkennt, das Geſetz Gottes
als urſpruͤngliche Bedingung der geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬
nung, als die ewige Grundlage ſeines freien Strebens nach
dem Unendlichen zu erfuͤllen. In dieſer weſentlichen Bedeu¬
tung kann das goͤttliche Geſetz nur der aufgeklaͤrten Froͤmmig¬
keit erſcheinen, welche demſelben als der Quelle alles Heils
einen liebenden Gehorſam weiht; aber der im Aberglauben
berauſchte Geiſt wird durch den verduͤſternden Schwindel ſeiner
Gedanken dergeſtalt bethoͤrt, daß er nur die fratzenhaften Zerr¬
bilder der Hoͤlle erblickt, wo vor dem klaren Blick des kindlich
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/34>, abgerufen am 17.02.2025.
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