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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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sten litterarischen Ehrgeiz nicht niedergekämpft werden konnte,
sondern immer wieder, und zuletzt noch am Grabesrande mäch¬
tig hervortrat, gewiß nicht das schwächste war. Liegt da nicht
die Erklärung näher, daß Voltaire neben allen Antrieben eines
selbstsüchtigen Gemüths, denen seine glänzenden Geistesgaben
eine überreichliche Befriedigung verschafften, doch auch ein tief
empfundenes religiöses Bedürfniß hegte, dem er aber bei der
Verderbtheit, und namentlich bei der Glaubensfäulniß der da¬
maligen Zeit so wenig eine Befriedigung zu verschaffen wußte,
daß er sich darüber in der vollständigsten Täuschung befand?
War nicht sein erbitterter Kampf gegen die damalige katholi¬
sche Geistlichkeit, mit deren verlornen Sache er leider auch die
von ihm verkannte christliche Religion identificirte, in tieferer
Bedeutung ein Ausbruch der Verzweiflung, daß durch ihre
Satzungen ihm der Seelenfriede geraubt wurde, welchen an
einem andern Orte wiederzufinden seine einmal eingeschlagene
und eifrigst verfolgte Geistesrichtung ihm unmöglich machte?
Sei es, daß eine Menge unedler, ja niedriger Motive ihm
den giftigen Hohn gegen das Christenthum in seine satyrische
Feder flößte; derselbe Mann hat allzuviele Beweise von hoch¬
herziger Denkweise gegeben, als daß nicht in seinem Innern
ein höheres Gesetz gewaltet hätte, welches freilich nur in einem
ächt religiösen Sinne zum deutlichen und vollständigen Be¬
wußtsein kommen kann. Versetzen wir denselben Voltaire in
ganz entgegengesetzte Verhältnisse, wo er fern von der Heu¬
chelei unter dem Regimente der Frau von Maintenon, und
von der unter dem Herzog von Orleans und der Marquise von
Pompadour herrschenden moralischen Verwesung, einer harmo¬
nischen Durchbildung seiner außerordentlichen Geistes- und Ge¬
müthsgaben theilhaftig geworden wäre, welch einen ganz an¬
deren, vielleicht weniger glänzenden, aber dafür weit gediege¬
neren Charakter würde er sich dann angeeignet haben.

Auch über den scheinbaren Widerspruch habe ich mich mit
wenigen Worten zu erklären, in welchem mehrere der mitge¬
theilten Beobachtungen mit dem oben ausgesprochenen Grund¬
satze stehen, daß der Wahnsinn die Wirkung einer unbefrie¬
digten überschwenglichen Sehnsucht sei. In Bezug auf die
Quaalen eines tief verletzten Gewissens könnte man es mir

ſten litterariſchen Ehrgeiz nicht niedergekaͤmpft werden konnte,
ſondern immer wieder, und zuletzt noch am Grabesrande maͤch¬
tig hervortrat, gewiß nicht das ſchwaͤchſte war. Liegt da nicht
die Erklaͤrung naͤher, daß Voltaire neben allen Antrieben eines
ſelbſtſuͤchtigen Gemuͤths, denen ſeine glaͤnzenden Geiſtesgaben
eine uͤberreichliche Befriedigung verſchafften, doch auch ein tief
empfundenes religioͤſes Beduͤrfniß hegte, dem er aber bei der
Verderbtheit, und namentlich bei der Glaubensfaͤulniß der da¬
maligen Zeit ſo wenig eine Befriedigung zu verſchaffen wußte,
daß er ſich daruͤber in der vollſtaͤndigſten Taͤuſchung befand?
War nicht ſein erbitterter Kampf gegen die damalige katholi¬
ſche Geiſtlichkeit, mit deren verlornen Sache er leider auch die
von ihm verkannte chriſtliche Religion identificirte, in tieferer
Bedeutung ein Ausbruch der Verzweiflung, daß durch ihre
Satzungen ihm der Seelenfriede geraubt wurde, welchen an
einem andern Orte wiederzufinden ſeine einmal eingeſchlagene
und eifrigſt verfolgte Geiſtesrichtung ihm unmoͤglich machte?
Sei es, daß eine Menge unedler, ja niedriger Motive ihm
den giftigen Hohn gegen das Chriſtenthum in ſeine ſatyriſche
Feder floͤßte; derſelbe Mann hat allzuviele Beweiſe von hoch¬
herziger Denkweiſe gegeben, als daß nicht in ſeinem Innern
ein hoͤheres Geſetz gewaltet haͤtte, welches freilich nur in einem
aͤcht religioͤſen Sinne zum deutlichen und vollſtaͤndigen Be¬
wußtſein kommen kann. Verſetzen wir denſelben Voltaire in
ganz entgegengeſetzte Verhaͤltniſſe, wo er fern von der Heu¬
chelei unter dem Regimente der Frau von Maintenon, und
von der unter dem Herzog von Orleans und der Marquiſe von
Pompadour herrſchenden moraliſchen Verweſung, einer harmo¬
niſchen Durchbildung ſeiner außerordentlichen Geiſtes- und Ge¬
muͤthsgaben theilhaftig geworden waͤre, welch einen ganz an¬
deren, vielleicht weniger glaͤnzenden, aber dafuͤr weit gediege¬
neren Charakter wuͤrde er ſich dann angeeignet haben.

Auch uͤber den ſcheinbaren Widerſpruch habe ich mich mit
wenigen Worten zu erklaͤren, in welchem mehrere der mitge¬
theilten Beobachtungen mit dem oben ausgeſprochenen Grund¬
ſatze ſtehen, daß der Wahnſinn die Wirkung einer unbefrie¬
digten uͤberſchwenglichen Sehnſucht ſei. In Bezug auf die
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[25/0033] ſten litterariſchen Ehrgeiz nicht niedergekaͤmpft werden konnte, ſondern immer wieder, und zuletzt noch am Grabesrande maͤch¬ tig hervortrat, gewiß nicht das ſchwaͤchſte war. Liegt da nicht die Erklaͤrung naͤher, daß Voltaire neben allen Antrieben eines ſelbſtſuͤchtigen Gemuͤths, denen ſeine glaͤnzenden Geiſtesgaben eine uͤberreichliche Befriedigung verſchafften, doch auch ein tief empfundenes religioͤſes Beduͤrfniß hegte, dem er aber bei der Verderbtheit, und namentlich bei der Glaubensfaͤulniß der da¬ maligen Zeit ſo wenig eine Befriedigung zu verſchaffen wußte, daß er ſich daruͤber in der vollſtaͤndigſten Taͤuſchung befand? War nicht ſein erbitterter Kampf gegen die damalige katholi¬ ſche Geiſtlichkeit, mit deren verlornen Sache er leider auch die von ihm verkannte chriſtliche Religion identificirte, in tieferer Bedeutung ein Ausbruch der Verzweiflung, daß durch ihre Satzungen ihm der Seelenfriede geraubt wurde, welchen an einem andern Orte wiederzufinden ſeine einmal eingeſchlagene und eifrigſt verfolgte Geiſtesrichtung ihm unmoͤglich machte? Sei es, daß eine Menge unedler, ja niedriger Motive ihm den giftigen Hohn gegen das Chriſtenthum in ſeine ſatyriſche Feder floͤßte; derſelbe Mann hat allzuviele Beweiſe von hoch¬ herziger Denkweiſe gegeben, als daß nicht in ſeinem Innern ein hoͤheres Geſetz gewaltet haͤtte, welches freilich nur in einem aͤcht religioͤſen Sinne zum deutlichen und vollſtaͤndigen Be¬ wußtſein kommen kann. Verſetzen wir denſelben Voltaire in ganz entgegengeſetzte Verhaͤltniſſe, wo er fern von der Heu¬ chelei unter dem Regimente der Frau von Maintenon, und von der unter dem Herzog von Orleans und der Marquiſe von Pompadour herrſchenden moraliſchen Verweſung, einer harmo¬ niſchen Durchbildung ſeiner außerordentlichen Geiſtes- und Ge¬ muͤthsgaben theilhaftig geworden waͤre, welch einen ganz an¬ deren, vielleicht weniger glaͤnzenden, aber dafuͤr weit gediege¬ neren Charakter wuͤrde er ſich dann angeeignet haben. Auch uͤber den ſcheinbaren Widerſpruch habe ich mich mit wenigen Worten zu erklaͤren, in welchem mehrere der mitge¬ theilten Beobachtungen mit dem oben ausgeſprochenen Grund¬ ſatze ſtehen, daß der Wahnſinn die Wirkung einer unbefrie¬ digten uͤberſchwenglichen Sehnſucht ſei. In Bezug auf die Quaalen eines tief verletzten Gewiſſens koͤnnte man es mir

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/33>, abgerufen am 23.11.2024.