Bedingungen voraussetzt, und dabei an eigenthümliche Entwicke¬ lungsgesetze gebunden ist, welche bei der sorgfältigen Erforschung der Geisteskrankheiten am deutlichsten hervortreten. Ja es kommt da¬ bei oft weit weniger auf grell in die Augen springende Thatsa¬ chen, sondern häufig weit mehr auf ein leises Zusammenwir¬ ken von Einflüssen an, welche ihres geringfügigen Anscheins wegen nicht beachtet werden, obgleich gerade sie durch ihr be¬ harrlich fortgesetztes Wirken dem Gemüth eine durchaus falsche Richtung geben, in welcher es unmerklich von einer klaren Be¬ sonnenheit zu einer gänzlichen Verblendung und Selbstbethö¬ rung abgeleitet, und dadurch ins Verderben gestürzt werden kann. Im geistigen Leben ist Nichts unbedeutend, sondern das Größte kann aus dem Kleinsten entspringen, wenn Gleiches sich zu Gleichem gesellt, so wie die Lawine aus einem Häuf¬ lein Schnee entsteht, welches von einem Felsen herabrollend immer neue Schneemassen an sich zieht, und dadurch zur un¬ geheuersten Wucht anwächst, welche mit zermalmender Gewalt in die Tiefe stürzt.
Mit einem Worte, wir bedürfen einer psychologischen Ent¬ wickelungsgeschichte der religiösen Verirrungen, wenn wir eine richtige Einsicht erlangen sollen, auf welche allein wirksame Weise die Quellen derselben verstopft werden sollen. Um aber die Elemente einer solchen Entwickelungsgeschichte auffinden zu können, muß man sie in vielen einzelnen Fällen sorgfältig studirt haben, um einen Begriff von dem inneren organi¬ schen Zusammenhange zu bekommen, in welchem die verschie¬ denen Thatsachen sich an einander reihen. Denn die wesent¬ liche Bedeutung der letzteren kann nur in ihrer wissenschaft¬ lichen Verbindung aufgefunden werden, dagegen ihre verein¬ zelte Betrachtung zu den verkehrtesten Urtheilen verleitet. Wie wahr dies sei, davon kann man sich leicht aus den völlig wi¬ dersprechenden Ansichten überzeugen, welche über sie herrschen. Zwar die Erscheinungen eines in den stärksten Zügen ausge¬ sprochenen frommen Wahns werden von allen Partheien als solche erkannt; aber daß jene Züge ihrem wesentlichen Charak¬ ter, ihrem Ursprunge, ihrer inneren Bedeutung nach durchaus übereinstimmen mit den Aeußerungen, in denen sich eine über¬ triebene Frömmigkeit kund giebt, dagegen sträuben sich natür¬
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Bedingungen vorausſetzt, und dabei an eigenthuͤmliche Entwicke¬ lungsgeſetze gebunden iſt, welche bei der ſorgfaͤltigen Erforſchung der Geiſteskrankheiten am deutlichſten hervortreten. Ja es kommt da¬ bei oft weit weniger auf grell in die Augen ſpringende Thatſa¬ chen, ſondern haͤufig weit mehr auf ein leiſes Zuſammenwir¬ ken von Einfluͤſſen an, welche ihres geringfuͤgigen Anſcheins wegen nicht beachtet werden, obgleich gerade ſie durch ihr be¬ harrlich fortgeſetztes Wirken dem Gemuͤth eine durchaus falſche Richtung geben, in welcher es unmerklich von einer klaren Be¬ ſonnenheit zu einer gaͤnzlichen Verblendung und Selbſtbethoͤ¬ rung abgeleitet, und dadurch ins Verderben geſtuͤrzt werden kann. Im geiſtigen Leben iſt Nichts unbedeutend, ſondern das Groͤßte kann aus dem Kleinſten entſpringen, wenn Gleiches ſich zu Gleichem geſellt, ſo wie die Lawine aus einem Haͤuf¬ lein Schnee entſteht, welches von einem Felſen herabrollend immer neue Schneemaſſen an ſich zieht, und dadurch zur un¬ geheuerſten Wucht anwaͤchſt, welche mit zermalmender Gewalt in die Tiefe ſtuͤrzt.
Mit einem Worte, wir beduͤrfen einer pſychologiſchen Ent¬ wickelungsgeſchichte der religioͤſen Verirrungen, wenn wir eine richtige Einſicht erlangen ſollen, auf welche allein wirkſame Weiſe die Quellen derſelben verſtopft werden ſollen. Um aber die Elemente einer ſolchen Entwickelungsgeſchichte auffinden zu koͤnnen, muß man ſie in vielen einzelnen Faͤllen ſorgfaͤltig ſtudirt haben, um einen Begriff von dem inneren organi¬ ſchen Zuſammenhange zu bekommen, in welchem die verſchie¬ denen Thatſachen ſich an einander reihen. Denn die weſent¬ liche Bedeutung der letzteren kann nur in ihrer wiſſenſchaft¬ lichen Verbindung aufgefunden werden, dagegen ihre verein¬ zelte Betrachtung zu den verkehrteſten Urtheilen verleitet. Wie wahr dies ſei, davon kann man ſich leicht aus den voͤllig wi¬ derſprechenden Anſichten uͤberzeugen, welche uͤber ſie herrſchen. Zwar die Erſcheinungen eines in den ſtaͤrkſten Zuͤgen ausge¬ ſprochenen frommen Wahns werden von allen Partheien als ſolche erkannt; aber daß jene Zuͤge ihrem weſentlichen Charak¬ ter, ihrem Urſprunge, ihrer inneren Bedeutung nach durchaus uͤbereinſtimmen mit den Aeußerungen, in denen ſich eine uͤber¬ triebene Froͤmmigkeit kund giebt, dagegen ſtraͤuben ſich natuͤr¬
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Bedingungen vorausſetzt, und dabei an eigenthuͤmliche Entwicke¬
lungsgeſetze gebunden iſt, welche bei der ſorgfaͤltigen Erforſchung der
Geiſteskrankheiten am deutlichſten hervortreten. Ja es kommt da¬
bei oft weit weniger auf grell in die Augen ſpringende Thatſa¬
chen, ſondern haͤufig weit mehr auf ein leiſes Zuſammenwir¬
ken von Einfluͤſſen an, welche ihres geringfuͤgigen Anſcheins
wegen nicht beachtet werden, obgleich gerade ſie durch ihr be¬
harrlich fortgeſetztes Wirken dem Gemuͤth eine durchaus falſche
Richtung geben, in welcher es unmerklich von einer klaren Be¬
ſonnenheit zu einer gaͤnzlichen Verblendung und Selbſtbethoͤ¬
rung abgeleitet, und dadurch ins Verderben geſtuͤrzt werden
kann. Im geiſtigen Leben iſt Nichts unbedeutend, ſondern das
Groͤßte kann aus dem Kleinſten entſpringen, wenn Gleiches
ſich zu Gleichem geſellt, ſo wie die Lawine aus einem Haͤuf¬
lein Schnee entſteht, welches von einem Felſen herabrollend
immer neue Schneemaſſen an ſich zieht, und dadurch zur un¬
geheuerſten Wucht anwaͤchſt, welche mit zermalmender Gewalt
in die Tiefe ſtuͤrzt.
Mit einem Worte, wir beduͤrfen einer pſychologiſchen Ent¬
wickelungsgeſchichte der religioͤſen Verirrungen, wenn wir eine
richtige Einſicht erlangen ſollen, auf welche allein wirkſame
Weiſe die Quellen derſelben verſtopft werden ſollen. Um aber
die Elemente einer ſolchen Entwickelungsgeſchichte auffinden zu
koͤnnen, muß man ſie in vielen einzelnen Faͤllen ſorgfaͤltig
ſtudirt haben, um einen Begriff von dem inneren organi¬
ſchen Zuſammenhange zu bekommen, in welchem die verſchie¬
denen Thatſachen ſich an einander reihen. Denn die weſent¬
liche Bedeutung der letzteren kann nur in ihrer wiſſenſchaft¬
lichen Verbindung aufgefunden werden, dagegen ihre verein¬
zelte Betrachtung zu den verkehrteſten Urtheilen verleitet. Wie
wahr dies ſei, davon kann man ſich leicht aus den voͤllig wi¬
derſprechenden Anſichten uͤberzeugen, welche uͤber ſie herrſchen.
Zwar die Erſcheinungen eines in den ſtaͤrkſten Zuͤgen ausge¬
ſprochenen frommen Wahns werden von allen Partheien als
ſolche erkannt; aber daß jene Zuͤge ihrem weſentlichen Charak¬
ter, ihrem Urſprunge, ihrer inneren Bedeutung nach durchaus
uͤbereinſtimmen mit den Aeußerungen, in denen ſich eine uͤber¬
triebene Froͤmmigkeit kund giebt, dagegen ſtraͤuben ſich natuͤr¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/27>, abgerufen am 16.02.2025.
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