worden sind, woraus sich die furchtbaren Verheerungen zur Genüge erklären, welche durch dasselbe noch immerfort unter der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzüglichste Mit¬ tel, seiner Entstehung vorzubeugen, und seinen Ausbruch mit Sicherheit zu bekämpfen, nämlich die Gymnastik, blieb bisher fast gänzlich von der Erziehung ausgeschlossen. Ich muß mich hier auf meine allgemeine Diätetik für Gebildete beziehen, wo¬ selbst ich den physiologischen Beweis geführt zu haben glaube, daß angemessene Muskelanstrengungen die unerlaßlich nothwen¬ dige Bedingung einer harmonischen Durchbildung des Geistes und Körpers sind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬ starken sollen, an welcher wie an einem gehärteten Stahl kaum ein Rost sich ansetzen, oder wenigstens leicht wieder abgeschlif¬ fen werden kann. Gerade die einseitige Schulbildung, welche der körperlichen Entwickelung ihre unveräußerlichen Rechte strei¬ tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in rastlosen Geistesanstrengungen jene physische Ausmergelung, jene reizbare Schwäche hervor, welche dem Spiel der Phantasie mit lüster¬ nen Bildern in Ermangelung thatkräftiger Gefühle nur allzu¬ reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt, denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerstand lei¬ sten kann. Nach dem Grundgesetze der körperlichen Entwicke¬ lung soll der in der Jugend so überreichlich erzeugte physische Nahrungsstoff zu der rasch fortschreitenden Entwickelung aller Organe verwandt werden, wozu vor Allem tüchtige Leibesbe¬ wegungen nothwendig sind, welche den Eingeweiden sowie den Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsstoff an sich zu ziehen, in sich zu verarbeiten. In Ermangelung dieser nothwendigen Bedingungen strömt der Bildungssaft um so reich¬ licher nach den Genitalien, je mehr sie durch unnatürliche Lüste in einen krankhaften Reizzustand versetzt sind, um in ihnen fortwährend die Flamme der Begierden anzuschüren, deren ver¬ heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬ zureichend im Kampfe gegen die sinnlichen Begierden oft selbst die Motive der Religion und Sittlichkeit sind, davon giebt uns das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche die Unterdrückung der Wollust zu einer Hauptaufgabe ihres frommen Eifers machten, und sie dennoch nicht durch die här¬
worden ſind, woraus ſich die furchtbaren Verheerungen zur Genuͤge erklaͤren, welche durch daſſelbe noch immerfort unter der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzuͤglichſte Mit¬ tel, ſeiner Entſtehung vorzubeugen, und ſeinen Ausbruch mit Sicherheit zu bekaͤmpfen, naͤmlich die Gymnaſtik, blieb bisher faſt gaͤnzlich von der Erziehung ausgeschloſſen. Ich muß mich hier auf meine allgemeine Diaͤtetik fuͤr Gebildete beziehen, wo¬ ſelbſt ich den phyſiologiſchen Beweis gefuͤhrt zu haben glaube, daß angemeſſene Muskelanſtrengungen die unerlaßlich nothwen¬ dige Bedingung einer harmoniſchen Durchbildung des Geiſtes und Koͤrpers ſind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬ ſtarken ſollen, an welcher wie an einem gehaͤrteten Stahl kaum ein Roſt ſich anſetzen, oder wenigſtens leicht wieder abgeſchlif¬ fen werden kann. Gerade die einſeitige Schulbildung, welche der koͤrperlichen Entwickelung ihre unveraͤußerlichen Rechte ſtrei¬ tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in raſtloſen Geiſtesanſtrengungen jene phyſiſche Ausmergelung, jene reizbare Schwaͤche hervor, welche dem Spiel der Phantaſie mit luͤſter¬ nen Bildern in Ermangelung thatkraͤftiger Gefuͤhle nur allzu¬ reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt, denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerſtand lei¬ ſten kann. Nach dem Grundgeſetze der koͤrperlichen Entwicke¬ lung ſoll der in der Jugend ſo uͤberreichlich erzeugte phyſiſche Nahrungsſtoff zu der raſch fortſchreitenden Entwickelung aller Organe verwandt werden, wozu vor Allem tuͤchtige Leibesbe¬ wegungen nothwendig ſind, welche den Eingeweiden ſowie den Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsſtoff an ſich zu ziehen, in ſich zu verarbeiten. In Ermangelung dieſer nothwendigen Bedingungen ſtroͤmt der Bildungsſaft um ſo reich¬ licher nach den Genitalien, je mehr ſie durch unnatuͤrliche Luͤſte in einen krankhaften Reizzuſtand verſetzt ſind, um in ihnen fortwaͤhrend die Flamme der Begierden anzuſchuͤren, deren ver¬ heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬ zureichend im Kampfe gegen die ſinnlichen Begierden oft ſelbſt die Motive der Religion und Sittlichkeit ſind, davon giebt uns das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche die Unterdruͤckung der Wolluſt zu einer Hauptaufgabe ihres frommen Eifers machten, und ſie dennoch nicht durch die haͤr¬
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[199/0207]
worden ſind, woraus ſich die furchtbaren Verheerungen zur
Genuͤge erklaͤren, welche durch daſſelbe noch immerfort unter
der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzuͤglichſte Mit¬
tel, ſeiner Entſtehung vorzubeugen, und ſeinen Ausbruch mit
Sicherheit zu bekaͤmpfen, naͤmlich die Gymnaſtik, blieb bisher
faſt gaͤnzlich von der Erziehung ausgeschloſſen. Ich muß mich
hier auf meine allgemeine Diaͤtetik fuͤr Gebildete beziehen, wo¬
ſelbſt ich den phyſiologiſchen Beweis gefuͤhrt zu haben glaube,
daß angemeſſene Muskelanſtrengungen die unerlaßlich nothwen¬
dige Bedingung einer harmoniſchen Durchbildung des Geiſtes und
Koͤrpers ſind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬
ſtarken ſollen, an welcher wie an einem gehaͤrteten Stahl kaum
ein Roſt ſich anſetzen, oder wenigſtens leicht wieder abgeſchlif¬
fen werden kann. Gerade die einſeitige Schulbildung, welche
der koͤrperlichen Entwickelung ihre unveraͤußerlichen Rechte ſtrei¬
tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in raſtloſen
Geiſtesanſtrengungen jene phyſiſche Ausmergelung, jene reizbare
Schwaͤche hervor, welche dem Spiel der Phantaſie mit luͤſter¬
nen Bildern in Ermangelung thatkraͤftiger Gefuͤhle nur allzu¬
reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt,
denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerſtand lei¬
ſten kann. Nach dem Grundgeſetze der koͤrperlichen Entwicke¬
lung ſoll der in der Jugend ſo uͤberreichlich erzeugte phyſiſche
Nahrungsſtoff zu der raſch fortſchreitenden Entwickelung aller
Organe verwandt werden, wozu vor Allem tuͤchtige Leibesbe¬
wegungen nothwendig ſind, welche den Eingeweiden ſowie den
Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsſtoff an
ſich zu ziehen, in ſich zu verarbeiten. In Ermangelung dieſer
nothwendigen Bedingungen ſtroͤmt der Bildungsſaft um ſo reich¬
licher nach den Genitalien, je mehr ſie durch unnatuͤrliche Luͤſte
in einen krankhaften Reizzuſtand verſetzt ſind, um in ihnen
fortwaͤhrend die Flamme der Begierden anzuſchuͤren, deren ver¬
heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬
zureichend im Kampfe gegen die ſinnlichen Begierden oft ſelbſt
die Motive der Religion und Sittlichkeit ſind, davon giebt uns
das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche
die Unterdruͤckung der Wolluſt zu einer Hauptaufgabe ihres
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/207>, abgerufen am 26.07.2024.
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