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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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18.

Die Darstellung des nachfolgenden Falles von Wahnsinn
ist größtentheils aus einer vortrefflich geschriebenen Selbstbio¬
graphie entnommen, welche der Genesene vor seinem Abgange
aus der Charite verfaßte. Um jedem nachtheiligen Einflusse
vorzubeugen, den die Veröffentlichung seines Seelenleidens auf
sein ferneres Schicksal ausüben könnte, unterdrücke ich geflis¬
sentlich die Bezeichnung seiner näheren Lebensverhältnisse,
welche überdies so einfach waren, daß sie nur in entfernter
Beziehung zur Entstehung seines Wahns standen. Von ächt
frommen Aeltern wurde er in seiner Kindheit mit jener ge¬
wissenhaften Sorgfalt erzogen, welche jeden Keim des Guten
in das zarte Gemüth zu pflanzen sich bestrebt, und doch im
wohlgemeinten Eifer ihren Zweck dadurch zum Theil vereiteln
kann, daß sie der selbstständigen Entwickelung des erwachenden
Geistes zu wenig Spielraum gewahrt, indem sie denselben in
den Mechanismus pedantischer Schulformen einzwängt, damit
nirgends ein eigenmächtiges Denken und Wollen mit der in
ihnen liegenden Gefahr einer Verirrung zum Vorschein komme.
Er selbst schildert dies Verfahren, wodurch ihm fast jede Ge¬
legenheit zu kindlichen Spielen verkümmert wurde, mit folgen¬
den Worten:

"Ein falscher Spiritualismus, der sich bis ins Volksle¬
ben hineingeschlichen, stand noch der gesunden Entwickelung des
leiblichen Lebens hemmend entgegen. Wie die materielle Seite
des jugendlichen Alters unter dem Drucke eines einseitigen
Spiritualismus stand, so ward hinwiederum die specielle Natur
des Kindes durch eine abstract materielle Lehrmethode, der
man eigentlich mit Unrecht den Namen einer Melhode giebt,
an einer freien, aus dem innersten Kern des individuellen Gei¬
stes hervorgehenden Entfaltung gehindert. Die Uebung der
Gedächtnißkraft durch mehr oder weniger mechanisches Auffas¬
sen und Auswendiglernen von gewissen sogenannten positiven
Kenntnissen und Lehrobjecten, die als fertig hingegeben die
Selbstthätigkeit des kindlichen Geistes wenig oder gar nicht er¬
regten und erweckten, war in jeder Beziehung auf jedem be¬
sonderen Gebiete der pädagogischen Wirksamkeit wie fast über¬

18.

Die Darſtellung des nachfolgenden Falles von Wahnſinn
iſt groͤßtentheils aus einer vortrefflich geſchriebenen Selbſtbio¬
graphie entnommen, welche der Geneſene vor ſeinem Abgange
aus der Charité verfaßte. Um jedem nachtheiligen Einfluſſe
vorzubeugen, den die Veroͤffentlichung ſeines Seelenleidens auf
ſein ferneres Schickſal ausuͤben koͤnnte, unterdruͤcke ich gefliſ¬
ſentlich die Bezeichnung ſeiner naͤheren Lebensverhaͤltniſſe,
welche uͤberdies ſo einfach waren, daß ſie nur in entfernter
Beziehung zur Entſtehung ſeines Wahns ſtanden. Von aͤcht
frommen Aeltern wurde er in ſeiner Kindheit mit jener ge¬
wiſſenhaften Sorgfalt erzogen, welche jeden Keim des Guten
in das zarte Gemuͤth zu pflanzen ſich beſtrebt, und doch im
wohlgemeinten Eifer ihren Zweck dadurch zum Theil vereiteln
kann, daß ſie der ſelbſtſtaͤndigen Entwickelung des erwachenden
Geiſtes zu wenig Spielraum gewahrt, indem ſie denſelben in
den Mechanismus pedantiſcher Schulformen einzwaͤngt, damit
nirgends ein eigenmaͤchtiges Denken und Wollen mit der in
ihnen liegenden Gefahr einer Verirrung zum Vorſchein komme.
Er ſelbſt ſchildert dies Verfahren, wodurch ihm faſt jede Ge¬
legenheit zu kindlichen Spielen verkuͤmmert wurde, mit folgen¬
den Worten:

„Ein falſcher Spiritualismus, der ſich bis ins Volksle¬
ben hineingeſchlichen, ſtand noch der geſunden Entwickelung des
leiblichen Lebens hemmend entgegen. Wie die materielle Seite
des jugendlichen Alters unter dem Drucke eines einſeitigen
Spiritualismus ſtand, ſo ward hinwiederum die ſpecielle Natur
des Kindes durch eine abſtract materielle Lehrmethode, der
man eigentlich mit Unrecht den Namen einer Melhode giebt,
an einer freien, aus dem innerſten Kern des individuellen Gei¬
ſtes hervorgehenden Entfaltung gehindert. Die Uebung der
Gedaͤchtnißkraft durch mehr oder weniger mechaniſches Auffaſ¬
ſen und Auswendiglernen von gewiſſen ſogenannten poſitiven
Kenntniſſen und Lehrobjecten, die als fertig hingegeben die
Selbſtthaͤtigkeit des kindlichen Geiſtes wenig oder gar nicht er¬
regten und erweckten, war in jeder Beziehung auf jedem be¬
ſonderen Gebiete der paͤdagogiſchen Wirkſamkeit wie faſt uͤber¬

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[197/0205] 18. Die Darſtellung des nachfolgenden Falles von Wahnſinn iſt groͤßtentheils aus einer vortrefflich geſchriebenen Selbſtbio¬ graphie entnommen, welche der Geneſene vor ſeinem Abgange aus der Charité verfaßte. Um jedem nachtheiligen Einfluſſe vorzubeugen, den die Veroͤffentlichung ſeines Seelenleidens auf ſein ferneres Schickſal ausuͤben koͤnnte, unterdruͤcke ich gefliſ¬ ſentlich die Bezeichnung ſeiner naͤheren Lebensverhaͤltniſſe, welche uͤberdies ſo einfach waren, daß ſie nur in entfernter Beziehung zur Entſtehung ſeines Wahns ſtanden. Von aͤcht frommen Aeltern wurde er in ſeiner Kindheit mit jener ge¬ wiſſenhaften Sorgfalt erzogen, welche jeden Keim des Guten in das zarte Gemuͤth zu pflanzen ſich beſtrebt, und doch im wohlgemeinten Eifer ihren Zweck dadurch zum Theil vereiteln kann, daß ſie der ſelbſtſtaͤndigen Entwickelung des erwachenden Geiſtes zu wenig Spielraum gewahrt, indem ſie denſelben in den Mechanismus pedantiſcher Schulformen einzwaͤngt, damit nirgends ein eigenmaͤchtiges Denken und Wollen mit der in ihnen liegenden Gefahr einer Verirrung zum Vorſchein komme. Er ſelbſt ſchildert dies Verfahren, wodurch ihm faſt jede Ge¬ legenheit zu kindlichen Spielen verkuͤmmert wurde, mit folgen¬ den Worten: „Ein falſcher Spiritualismus, der ſich bis ins Volksle¬ ben hineingeſchlichen, ſtand noch der geſunden Entwickelung des leiblichen Lebens hemmend entgegen. Wie die materielle Seite des jugendlichen Alters unter dem Drucke eines einſeitigen Spiritualismus ſtand, ſo ward hinwiederum die ſpecielle Natur des Kindes durch eine abſtract materielle Lehrmethode, der man eigentlich mit Unrecht den Namen einer Melhode giebt, an einer freien, aus dem innerſten Kern des individuellen Gei¬ ſtes hervorgehenden Entfaltung gehindert. Die Uebung der Gedaͤchtnißkraft durch mehr oder weniger mechaniſches Auffaſ¬ ſen und Auswendiglernen von gewiſſen ſogenannten poſitiven Kenntniſſen und Lehrobjecten, die als fertig hingegeben die Selbſtthaͤtigkeit des kindlichen Geiſtes wenig oder gar nicht er¬ regten und erweckten, war in jeder Beziehung auf jedem be¬ ſonderen Gebiete der paͤdagogiſchen Wirkſamkeit wie faſt uͤber¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/205>, abgerufen am 23.11.2024.