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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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gleich ihm leiden und streiten müsse, glaubte er oft dessen
heiliges Walten in sich zu spüren; jedoch erklärt er ausdrück¬
lich, niemals Visionen gehabt zu haben.

Nach zurückgelegtem 17. Jahre arbeitete er als Geselle
mehrere Jahre bei einem hiesigen Schuhmacher, und befand
sich nun zum ersten Male in einer unabhängigen und sorglo¬
sen Lage. Dann zog er nach einem Dorfe, wo er seine jetzi¬
ge Frau, eine Wittwe und Mutter mehrerer Kinder, kennen
lernte, und wie er versichert, mehr aus Mitleid für ihre be¬
drängte Lage als aus inniger Liebe schon in seinem 20. Jahre
mit ihr sich verheirathete. Seine Ehe, welche ihm keine Kin¬
der brachte, war glücklich, da er ihren Fleiß, ihre Treue und
Anhänglichkeit lobt. Später siedelte er sich nach einem ande¬
ren Dorfe über, woselbst er aus Mangel an anderer Beschäf¬
tigung als Handlanger bei einem Schleusenbau arbeiten mußte.
Ungeachtet seines spärlichen Einkommens konnte er dennoch
Armen einen Nothpfennig reichen, wozu er sich durch christ¬
liche Gesinnung verpflichtet fühlte. Nach seiner Geburtsstadt
zurückgekehrt, war er genöthigt, sich als Arbeiter bei einer Ei¬
senbahn zu verdingen, da ihm die Mittel fehlten, sich als
Schuhmacher eine Werkstätte einzurichten. Endlich vor 4 Jah¬
ren zog er hierher zurück, und fand bald Beschäftigung in
einer Zuckersiederei, welche ihm einen für seine geringen Be¬
dürfnisse genügenden Erwerb verschaffte. Seiner Versicherung
zufolge hat er während dieser Zeit zwar fleißig den öffentli¬
chen Gottesdienst besucht, und sich an den Reden der Geistli¬
chen, welche ihren Vorträgen Leben und Wärme zu verleihen
wußten, innig erbaut, jedoch mit dem Lesen der Bibel sich
nur selten beschäftigt, und die Theilnahme an pietistischen
Conventikeln geradezu vermieden, weil es seiner Beobachtung
nicht entging, daß Viele in denselben eine eifrige Frömmig¬
keit zur Schau tragen, mit welcher ihr Leben in einem schrof¬
fen Widerspruch steht. Ihm mißfiel überdies der separatisti¬
sche Charakter derselben, da der Gottesdienst ein freier und
öffentlicher sein soll. Sein Christenthum war durchaus prak¬
tischer Art, und indem er sich die heilbringenden Lehren des¬
selben tief einprägte, flößte es ihm ein inniges Bedauern ein,
daß die Heiden dem Götzendienste ergeben und deshalb des

gleich ihm leiden und ſtreiten muͤſſe, glaubte er oft deſſen
heiliges Walten in ſich zu ſpuͤren; jedoch erklaͤrt er ausdruͤck¬
lich, niemals Viſionen gehabt zu haben.

Nach zuruͤckgelegtem 17. Jahre arbeitete er als Geſelle
mehrere Jahre bei einem hieſigen Schuhmacher, und befand
ſich nun zum erſten Male in einer unabhaͤngigen und ſorglo¬
ſen Lage. Dann zog er nach einem Dorfe, wo er ſeine jetzi¬
ge Frau, eine Wittwe und Mutter mehrerer Kinder, kennen
lernte, und wie er verſichert, mehr aus Mitleid fuͤr ihre be¬
draͤngte Lage als aus inniger Liebe ſchon in ſeinem 20. Jahre
mit ihr ſich verheirathete. Seine Ehe, welche ihm keine Kin¬
der brachte, war gluͤcklich, da er ihren Fleiß, ihre Treue und
Anhaͤnglichkeit lobt. Spaͤter ſiedelte er ſich nach einem ande¬
ren Dorfe uͤber, woſelbſt er aus Mangel an anderer Beſchaͤf¬
tigung als Handlanger bei einem Schleuſenbau arbeiten mußte.
Ungeachtet ſeines ſpaͤrlichen Einkommens konnte er dennoch
Armen einen Nothpfennig reichen, wozu er ſich durch chriſt¬
liche Geſinnung verpflichtet fuͤhlte. Nach ſeiner Geburtsſtadt
zuruͤckgekehrt, war er genoͤthigt, ſich als Arbeiter bei einer Ei¬
ſenbahn zu verdingen, da ihm die Mittel fehlten, ſich als
Schuhmacher eine Werkſtaͤtte einzurichten. Endlich vor 4 Jah¬
ren zog er hierher zuruͤck, und fand bald Beſchaͤftigung in
einer Zuckerſiederei, welche ihm einen fuͤr ſeine geringen Be¬
duͤrfniſſe genuͤgenden Erwerb verſchaffte. Seiner Verſicherung
zufolge hat er waͤhrend dieſer Zeit zwar fleißig den oͤffentli¬
chen Gottesdienſt beſucht, und ſich an den Reden der Geiſtli¬
chen, welche ihren Vortraͤgen Leben und Waͤrme zu verleihen
wußten, innig erbaut, jedoch mit dem Leſen der Bibel ſich
nur ſelten beſchaͤftigt, und die Theilnahme an pietiſtiſchen
Conventikeln geradezu vermieden, weil es ſeiner Beobachtung
nicht entging, daß Viele in denſelben eine eifrige Froͤmmig¬
keit zur Schau tragen, mit welcher ihr Leben in einem ſchrof¬
fen Widerſpruch ſteht. Ihm mißfiel uͤberdies der ſeparatiſti¬
ſche Charakter derſelben, da der Gottesdienſt ein freier und
oͤffentlicher ſein ſoll. Sein Chriſtenthum war durchaus prak¬
tiſcher Art, und indem er ſich die heilbringenden Lehren deſ¬
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[187/0195] gleich ihm leiden und ſtreiten muͤſſe, glaubte er oft deſſen heiliges Walten in ſich zu ſpuͤren; jedoch erklaͤrt er ausdruͤck¬ lich, niemals Viſionen gehabt zu haben. Nach zuruͤckgelegtem 17. Jahre arbeitete er als Geſelle mehrere Jahre bei einem hieſigen Schuhmacher, und befand ſich nun zum erſten Male in einer unabhaͤngigen und ſorglo¬ ſen Lage. Dann zog er nach einem Dorfe, wo er ſeine jetzi¬ ge Frau, eine Wittwe und Mutter mehrerer Kinder, kennen lernte, und wie er verſichert, mehr aus Mitleid fuͤr ihre be¬ draͤngte Lage als aus inniger Liebe ſchon in ſeinem 20. Jahre mit ihr ſich verheirathete. Seine Ehe, welche ihm keine Kin¬ der brachte, war gluͤcklich, da er ihren Fleiß, ihre Treue und Anhaͤnglichkeit lobt. Spaͤter ſiedelte er ſich nach einem ande¬ ren Dorfe uͤber, woſelbſt er aus Mangel an anderer Beſchaͤf¬ tigung als Handlanger bei einem Schleuſenbau arbeiten mußte. Ungeachtet ſeines ſpaͤrlichen Einkommens konnte er dennoch Armen einen Nothpfennig reichen, wozu er ſich durch chriſt¬ liche Geſinnung verpflichtet fuͤhlte. Nach ſeiner Geburtsſtadt zuruͤckgekehrt, war er genoͤthigt, ſich als Arbeiter bei einer Ei¬ ſenbahn zu verdingen, da ihm die Mittel fehlten, ſich als Schuhmacher eine Werkſtaͤtte einzurichten. Endlich vor 4 Jah¬ ren zog er hierher zuruͤck, und fand bald Beſchaͤftigung in einer Zuckerſiederei, welche ihm einen fuͤr ſeine geringen Be¬ duͤrfniſſe genuͤgenden Erwerb verſchaffte. Seiner Verſicherung zufolge hat er waͤhrend dieſer Zeit zwar fleißig den oͤffentli¬ chen Gottesdienſt beſucht, und ſich an den Reden der Geiſtli¬ chen, welche ihren Vortraͤgen Leben und Waͤrme zu verleihen wußten, innig erbaut, jedoch mit dem Leſen der Bibel ſich nur ſelten beſchaͤftigt, und die Theilnahme an pietiſtiſchen Conventikeln geradezu vermieden, weil es ſeiner Beobachtung nicht entging, daß Viele in denſelben eine eifrige Froͤmmig¬ keit zur Schau tragen, mit welcher ihr Leben in einem ſchrof¬ fen Widerſpruch ſteht. Ihm mißfiel uͤberdies der ſeparatiſti¬ ſche Charakter derſelben, da der Gottesdienſt ein freier und oͤffentlicher ſein ſoll. Sein Chriſtenthum war durchaus prak¬ tiſcher Art, und indem er ſich die heilbringenden Lehren deſ¬ ſelben tief einpraͤgte, floͤßte es ihm ein inniges Bedauern ein, daß die Heiden dem Goͤtzendienſte ergeben und deshalb des

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/195>, abgerufen am 23.11.2024.