der Phantasie beurkunden, und mit Hülfe beider ein Zauber¬ reich von Vorstellungen hervorrufen, dessen kühnen Verhält¬ nissen, großartiger Bedeutung, ja idealer Verklärung man seine Bewunderung nicht versagen kann. Ja es ereignet sich zu¬ weilen, daß Personen, deren Geist in früherer Lebensbeschrän¬ kung es nur bis zu einer dürftigen Entwickelung bringen konnte, im Wahn die Fesseln derselben abschütteln, und in schwunghafte Thätigkeit versetzt, mit einer Fülle der großar¬ tigsten Vorstellungen überraschen.
Gewiß, es eröffnet sich auf diesem Standpunkte der Be¬ trachtung die Aussicht auf ein ganz unermeßliches Gebiet der psychologischen Forschung, wo unzählige Probleme von der wich¬ tigsten Bedeutung sich an einander reihen, und weit entfernt, daß der Wahnsinn das trostlose Bild eines sich selbst vernich¬ tenden Geistes gewähren sollte, beurkundet er vielmehr das durch Nichts zu verwüstende schöpferische Vermögen desselben, immer aufs Neue Welten von Vorstellungen aus sich zu er¬ zeugen, nachdem die früheren in sich zerfallen sind. Erwägt man nun noch, daß der Ursprung des Wahns aus dem frü¬ heren Leben die innersten Entwickelungsvorgänge, den wesent¬ lich ursachlichen Zusammenhang seiner auf einander folgenden Zustände aufdeckt, und dadurch das geheime Werden und Wach¬ sen der in den tiefsten Grund der Seele gelegten Keime, also ihr innerstes und ursprünglichstes Leben zur unmittelbaren An¬ schauung bringt, aus welcher sodann auch die Bedingungen der Heilung klar werden müssen; so begreift es sich leicht, daß dem Menschenforscher gerade im Gebiete der Geisteskrankheiten der tiefste Schacht der Erkenntniß eröffnet wird, dessen Reich¬ thum sich noch gar nicht ahnen läßt.
Wir dürfen bei diesen Betrachtungen nicht länger verweilen, da sie nur dazu dienen sollten, die hochwichtige Bedeutung des religiösen Wahns etwas näher zu bezeichnen, um ihm ein allgemeineres Interesse zuzuwenden. Ist derselbe nämlich im Sinne des bisher Gesagten nichts Anderes, als die Wirkung einer so grenzenlosen Sehnsucht nach dem Göttlichen, daß die¬ selbe jede andere Neigung sich unterordnet, oder geradezu un¬ terdrückt, so stellt er sich deshalb als eine der großartigsten und mächtigsten Erscheinungen des Lebens dar. Denn zuvör¬
der Phantaſie beurkunden, und mit Huͤlfe beider ein Zauber¬ reich von Vorſtellungen hervorrufen, deſſen kuͤhnen Verhaͤlt¬ niſſen, großartiger Bedeutung, ja idealer Verklaͤrung man ſeine Bewunderung nicht verſagen kann. Ja es ereignet ſich zu¬ weilen, daß Perſonen, deren Geiſt in fruͤherer Lebensbeſchraͤn¬ kung es nur bis zu einer duͤrftigen Entwickelung bringen konnte, im Wahn die Feſſeln derſelben abſchuͤtteln, und in ſchwunghafte Thaͤtigkeit verſetzt, mit einer Fuͤlle der großar¬ tigſten Vorſtellungen uͤberraſchen.
Gewiß, es eroͤffnet ſich auf dieſem Standpunkte der Be¬ trachtung die Ausſicht auf ein ganz unermeßliches Gebiet der pſychologiſchen Forſchung, wo unzaͤhlige Probleme von der wich¬ tigſten Bedeutung ſich an einander reihen, und weit entfernt, daß der Wahnſinn das troſtloſe Bild eines ſich ſelbſt vernich¬ tenden Geiſtes gewaͤhren ſollte, beurkundet er vielmehr das durch Nichts zu verwuͤſtende ſchoͤpferiſche Vermoͤgen deſſelben, immer aufs Neue Welten von Vorſtellungen aus ſich zu er¬ zeugen, nachdem die fruͤheren in ſich zerfallen ſind. Erwaͤgt man nun noch, daß der Urſprung des Wahns aus dem fruͤ¬ heren Leben die innerſten Entwickelungsvorgaͤnge, den weſent¬ lich urſachlichen Zuſammenhang ſeiner auf einander folgenden Zuſtaͤnde aufdeckt, und dadurch das geheime Werden und Wach¬ ſen der in den tiefſten Grund der Seele gelegten Keime, alſo ihr innerſtes und urſpruͤnglichſtes Leben zur unmittelbaren An¬ ſchauung bringt, aus welcher ſodann auch die Bedingungen der Heilung klar werden muͤſſen; ſo begreift es ſich leicht, daß dem Menſchenforſcher gerade im Gebiete der Geiſteskrankheiten der tiefſte Schacht der Erkenntniß eroͤffnet wird, deſſen Reich¬ thum ſich noch gar nicht ahnen laͤßt.
Wir duͤrfen bei dieſen Betrachtungen nicht laͤnger verweilen, da ſie nur dazu dienen ſollten, die hochwichtige Bedeutung des religioͤſen Wahns etwas naͤher zu bezeichnen, um ihm ein allgemeineres Intereſſe zuzuwenden. Iſt derſelbe naͤmlich im Sinne des bisher Geſagten nichts Anderes, als die Wirkung einer ſo grenzenloſen Sehnſucht nach dem Goͤttlichen, daß die¬ ſelbe jede andere Neigung ſich unterordnet, oder geradezu un¬ terdruͤckt, ſo ſtellt er ſich deshalb als eine der großartigſten und maͤchtigſten Erſcheinungen des Lebens dar. Denn zuvoͤr¬
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der Phantaſie beurkunden, und mit Huͤlfe beider ein Zauber¬
reich von Vorſtellungen hervorrufen, deſſen kuͤhnen Verhaͤlt¬
niſſen, großartiger Bedeutung, ja idealer Verklaͤrung man ſeine
Bewunderung nicht verſagen kann. Ja es ereignet ſich zu¬
weilen, daß Perſonen, deren Geiſt in fruͤherer Lebensbeſchraͤn¬
kung es nur bis zu einer duͤrftigen Entwickelung bringen
konnte, im Wahn die Feſſeln derſelben abſchuͤtteln, und in
ſchwunghafte Thaͤtigkeit verſetzt, mit einer Fuͤlle der großar¬
tigſten Vorſtellungen uͤberraſchen.
Gewiß, es eroͤffnet ſich auf dieſem Standpunkte der Be¬
trachtung die Ausſicht auf ein ganz unermeßliches Gebiet der
pſychologiſchen Forſchung, wo unzaͤhlige Probleme von der wich¬
tigſten Bedeutung ſich an einander reihen, und weit entfernt,
daß der Wahnſinn das troſtloſe Bild eines ſich ſelbſt vernich¬
tenden Geiſtes gewaͤhren ſollte, beurkundet er vielmehr das
durch Nichts zu verwuͤſtende ſchoͤpferiſche Vermoͤgen deſſelben,
immer aufs Neue Welten von Vorſtellungen aus ſich zu er¬
zeugen, nachdem die fruͤheren in ſich zerfallen ſind. Erwaͤgt
man nun noch, daß der Urſprung des Wahns aus dem fruͤ¬
heren Leben die innerſten Entwickelungsvorgaͤnge, den weſent¬
lich urſachlichen Zuſammenhang ſeiner auf einander folgenden
Zuſtaͤnde aufdeckt, und dadurch das geheime Werden und Wach¬
ſen der in den tiefſten Grund der Seele gelegten Keime, alſo
ihr innerſtes und urſpruͤnglichſtes Leben zur unmittelbaren An¬
ſchauung bringt, aus welcher ſodann auch die Bedingungen
der Heilung klar werden muͤſſen; ſo begreift es ſich leicht, daß
dem Menſchenforſcher gerade im Gebiete der Geiſteskrankheiten
der tiefſte Schacht der Erkenntniß eroͤffnet wird, deſſen Reich¬
thum ſich noch gar nicht ahnen laͤßt.
Wir duͤrfen bei dieſen Betrachtungen nicht laͤnger verweilen,
da ſie nur dazu dienen ſollten, die hochwichtige Bedeutung
des religioͤſen Wahns etwas naͤher zu bezeichnen, um ihm ein
allgemeineres Intereſſe zuzuwenden. Iſt derſelbe naͤmlich im
Sinne des bisher Geſagten nichts Anderes, als die Wirkung
einer ſo grenzenloſen Sehnſucht nach dem Goͤttlichen, daß die¬
ſelbe jede andere Neigung ſich unterordnet, oder geradezu un¬
terdruͤckt, ſo ſtellt er ſich deshalb als eine der großartigſten
und maͤchtigſten Erſcheinungen des Lebens dar. Denn zuvoͤr¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/19>, abgerufen am 16.02.2025.
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