er ihr nicht Einhalt thun, und ihr dadurch Zeit lassen, immer tiefere Wurzeln zu schlagen, bis diese die innerste Tiefe der Seele völlig durchdrungen und dadurch jede Heilung unmög¬ lich gemacht haben. Das rechte Maaß zu treffen ist freilich sehr schwer, da sich bei den unzähligen individuellen Verschie¬ denheiten keine allgemeine Regel darüber aufstellen läßt, und der Arzt auf seinen durch Erfahrung erworbenen Tact ange¬ wiesen ist, dessen Bestimmungsgründe er sich oft selbst nicht klar machen, ja die er fast nur fühlen kann. Man muß sich möglichst in die Empfindungs- und Anschauungsweise der Kran¬ ken hineinzuleben suchen, um aus ihrem Bewußtsein heraus das Nothwendige zu treffen, indem man sich ungefähr sagt, was auf sie einwirken kann, was nicht. Denn vergegenwär¬ tigt man sich lebhaft ihre Betäubung, Verwirrung, Befan¬ genheit, wie Jeder im eigenen Leben Einiges davon erfahren hat, um es sich deutlich zu machen, wie in solchen Zuständen die Seele ganz von der Außenwelt abgeschieden ist, und über¬ schlägt man in einer ungefähren Wahrscheinlichkeitsrechnung aus den bekannt gewordenen Bedingungen der Krankheit die Hart¬ näckigkeit ihrer Erscheinungen; so erlangt man wenigstens einen approximativen Maaßstab für die Intensität, welche die Heil¬ bedingungen erreichen müssen, wenn durch sie das verschlossene Innere der Kranken wieder für die Außenwelt eröffnet wer¬ den soll.
In diesem Sinne mußte daher im Februar unbedenklich zur Anwendung der Brechweinsteinsalbe geschritten werden, da sie unter allen bekannten heilsamen Einflüssen auf Geisteskranke rücksichtlich der Intensität und Dauer der Wirkung den vor¬ nehmsten Rang behauptet. Auch trat der erwartete günstige Erfolg im vollen Maaße ein, denn schon zu Ende des Monats erkannte die H. ihre bisherigen Wahnvorstellungen als solche, sie sah die Unstatthaftigkeit ihrer ungestümen Forderung, ent¬ lassen zu werden, deutlich ein, und begriff die Nothwendigkeit ihres längeren Aufenthalts in der Anstalt zu ihrer völligen Hei¬ lung von einem Seelenleiden, dessen furchtbarer Charakter ihr in lebhafter Erinnerung geblieben war. Da sie auch in kör¬ perlicher Beziehung sich ganz wohl befand, so konnte sie nicht nur an den üblichen weiblichen Arbeiten, sondern auch an den
er ihr nicht Einhalt thun, und ihr dadurch Zeit laſſen, immer tiefere Wurzeln zu ſchlagen, bis dieſe die innerſte Tiefe der Seele voͤllig durchdrungen und dadurch jede Heilung unmoͤg¬ lich gemacht haben. Das rechte Maaß zu treffen iſt freilich ſehr ſchwer, da ſich bei den unzaͤhligen individuellen Verſchie¬ denheiten keine allgemeine Regel daruͤber aufſtellen laͤßt, und der Arzt auf ſeinen durch Erfahrung erworbenen Tact ange¬ wieſen iſt, deſſen Beſtimmungsgruͤnde er ſich oft ſelbſt nicht klar machen, ja die er faſt nur fuͤhlen kann. Man muß ſich moͤglichſt in die Empfindungs- und Anſchauungsweiſe der Kran¬ ken hineinzuleben ſuchen, um aus ihrem Bewußtſein heraus das Nothwendige zu treffen, indem man ſich ungefaͤhr ſagt, was auf ſie einwirken kann, was nicht. Denn vergegenwaͤr¬ tigt man ſich lebhaft ihre Betaͤubung, Verwirrung, Befan¬ genheit, wie Jeder im eigenen Leben Einiges davon erfahren hat, um es ſich deutlich zu machen, wie in ſolchen Zuſtaͤnden die Seele ganz von der Außenwelt abgeſchieden iſt, und uͤber¬ ſchlaͤgt man in einer ungefaͤhren Wahrſcheinlichkeitsrechnung aus den bekannt gewordenen Bedingungen der Krankheit die Hart¬ naͤckigkeit ihrer Erſcheinungen; ſo erlangt man wenigſtens einen approximativen Maaßſtab fuͤr die Intenſitaͤt, welche die Heil¬ bedingungen erreichen muͤſſen, wenn durch ſie das verſchloſſene Innere der Kranken wieder fuͤr die Außenwelt eroͤffnet wer¬ den ſoll.
In dieſem Sinne mußte daher im Februar unbedenklich zur Anwendung der Brechweinſteinſalbe geſchritten werden, da ſie unter allen bekannten heilſamen Einfluͤſſen auf Geiſteskranke ruͤckſichtlich der Intenſitaͤt und Dauer der Wirkung den vor¬ nehmſten Rang behauptet. Auch trat der erwartete guͤnſtige Erfolg im vollen Maaße ein, denn ſchon zu Ende des Monats erkannte die H. ihre bisherigen Wahnvorſtellungen als ſolche, ſie ſah die Unſtatthaftigkeit ihrer ungeſtuͤmen Forderung, ent¬ laſſen zu werden, deutlich ein, und begriff die Nothwendigkeit ihres laͤngeren Aufenthalts in der Anſtalt zu ihrer voͤlligen Hei¬ lung von einem Seelenleiden, deſſen furchtbarer Charakter ihr in lebhafter Erinnerung geblieben war. Da ſie auch in koͤr¬ perlicher Beziehung ſich ganz wohl befand, ſo konnte ſie nicht nur an den uͤblichen weiblichen Arbeiten, ſondern auch an den
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er ihr nicht Einhalt thun, und ihr dadurch Zeit laſſen, immer
tiefere Wurzeln zu ſchlagen, bis dieſe die innerſte Tiefe der
Seele voͤllig durchdrungen und dadurch jede Heilung unmoͤg¬
lich gemacht haben. Das rechte Maaß zu treffen iſt freilich
ſehr ſchwer, da ſich bei den unzaͤhligen individuellen Verſchie¬
denheiten keine allgemeine Regel daruͤber aufſtellen laͤßt, und
der Arzt auf ſeinen durch Erfahrung erworbenen Tact ange¬
wieſen iſt, deſſen Beſtimmungsgruͤnde er ſich oft ſelbſt nicht
klar machen, ja die er faſt nur fuͤhlen kann. Man muß ſich
moͤglichſt in die Empfindungs- und Anſchauungsweiſe der Kran¬
ken hineinzuleben ſuchen, um aus ihrem Bewußtſein heraus
das Nothwendige zu treffen, indem man ſich ungefaͤhr ſagt,
was auf ſie einwirken kann, was nicht. Denn vergegenwaͤr¬
tigt man ſich lebhaft ihre Betaͤubung, Verwirrung, Befan¬
genheit, wie Jeder im eigenen Leben Einiges davon erfahren
hat, um es ſich deutlich zu machen, wie in ſolchen Zuſtaͤnden
die Seele ganz von der Außenwelt abgeſchieden iſt, und uͤber¬
ſchlaͤgt man in einer ungefaͤhren Wahrſcheinlichkeitsrechnung aus
den bekannt gewordenen Bedingungen der Krankheit die Hart¬
naͤckigkeit ihrer Erſcheinungen; ſo erlangt man wenigſtens einen
approximativen Maaßſtab fuͤr die Intenſitaͤt, welche die Heil¬
bedingungen erreichen muͤſſen, wenn durch ſie das verſchloſſene
Innere der Kranken wieder fuͤr die Außenwelt eroͤffnet wer¬
den ſoll.
In dieſem Sinne mußte daher im Februar unbedenklich
zur Anwendung der Brechweinſteinſalbe geſchritten werden, da
ſie unter allen bekannten heilſamen Einfluͤſſen auf Geiſteskranke
ruͤckſichtlich der Intenſitaͤt und Dauer der Wirkung den vor¬
nehmſten Rang behauptet. Auch trat der erwartete guͤnſtige
Erfolg im vollen Maaße ein, denn ſchon zu Ende des Monats
erkannte die H. ihre bisherigen Wahnvorſtellungen als ſolche,
ſie ſah die Unſtatthaftigkeit ihrer ungeſtuͤmen Forderung, ent¬
laſſen zu werden, deutlich ein, und begriff die Nothwendigkeit
ihres laͤngeren Aufenthalts in der Anſtalt zu ihrer voͤlligen Hei¬
lung von einem Seelenleiden, deſſen furchtbarer Charakter ihr
in lebhafter Erinnerung geblieben war. Da ſie auch in koͤr¬
perlicher Beziehung ſich ganz wohl befand, ſo konnte ſie nicht
nur an den uͤblichen weiblichen Arbeiten, ſondern auch an den
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/170>, abgerufen am 26.07.2024.
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